Nackt unter Wölfen
ihm auf der Brust. {Wie sich das alles komplizierte!} Er stützte den Kopf zwischen die Hände und schloss die Augen. Längst war es ihm klar, dass er Bochow Rechenschaft zu geben hatte. War er zu feig dazu? Sollte er das Kind versteckt halten und niemandem davon sagen? Keinem Bochow, keinem Krämer?
Höfel brütete vor sich hin. Das Geflüster hinter ihm drang an sein Ohr.
Bei Oppenheim haben die Amerikaner einen neuen Brückenkopf gebildet. Panzer sind nach Osten durchgebrochen! Ihre Spitzen haben den Main bei Hanau und Aschaffenburg erreicht. Bewegungskämpfe östlich von Bonn. Die Besatzung von Koblenz wurde auf das Ostufer zurückgenommen. In Bingen Straßenkämpfe.
Höfel wurde aufmerksam. So weit vor sind sie schon. So schnell geht das.
Das Kind einfach versteckt halten …, raunte es in ihm wieder. Er öffnete die Augen.
Hatte er eigentlich kühl und klar gehandelt? Er war dem Trieb des Herzens gefolgt und hatte sich von ihm überrumpeln lassen. War das Herz stärker als der Verstand? {Und gleichzeitig dachte er: Ist Bochows Verstand stärker als dessen Herz?}
Fühlen – denken. Denken – fühlen …
Wie auf einem steuerlosen Schiff trieb er mit seinen Überlegungen dahin und flüchtete sich in tausend Rechtfertigungen hinein. Was hätte er denn getan, wenn er an einem reißenden Strom vorübergegangen wäre, in dem ein Kind zu ertrinken drohte? Ohne Rücksicht auf sich selbst wäre er in die Fluten gesprungen, und nichts hätte selbstverständlicher sein können. {Hätte er nicht das gleiche drückende Schuldgefühl in sich gespürt, wenn er an dem ertrinkenden Kind vorbeigegangen wäre, feig und auf seine eigene Sicherheit bedacht, das gleiche Schuldgefühl, das er vor dem Kind dort hinten im Winkel empfunden hatte, als er noch bereit gewesen war, Bochows Anweisung zu befolgen? Hätte dann nicht aus weiter Ferne ein stummer Finger auf ihn gewiesen?
Das war es! Und es war im Grunde ganz einfach.}
Höfel atmete tief. {Er stand auf. Jetzt war er bereit, zu Krämer zu gehen, um wenigstens mit diesem zu sprechen.}
In Block 3 waren die »Kommandierten« untergebracht, jene Häftlinge, die als Kellner im Offizierskasino beschäftigt waren oder in der Küche oder als Schneider, Schuster, Läufer und Kalfaktoren für die SS.
»’n Ahmd, Karl.« Pippig setzte sich neben den in der SS-Küche beschäftigten Wunderlich und blinzelte diesen verschmitztan. Wunderlich merkte sofort, dass der Kleine etwas auf dem Herzen hatte. »Was willst du denn?«
»Milch.«
»Milch?{« Wunderlich lachte verblüfft. »}Wozu denn?«
»Zum Trinken, Rindvieh.«
»Für dich?«
Pippig war beleidigt. »Ich trinke Bier, wenn ich welches hätte …« Er zog Wunderlich zu sich heran, flüsterte ihm ins Ohr: »Wir haben ein Kind.«
»Ein was?«
»Pscht«, Pippig sah vorsichtig im Kreise, tuschelte Wunderlich das Geheimnis zu, legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Siehste, Karl, und da brauchen wir eben ein bisschen Milch für das Kleine. – So ’ne Ärmchen hat es und so ’ne Beinchen. Das Würmchen geht uns noch ein. – Na, wie denn, Karl – ’n halben Liter?«
Wunderlich überlegte. »Wie willst du die Milch durchs Tor bringen?« Das war Zustimmung. Pippig strahlte.
»Das lass mal ganz meine Sorge sein.«
»Und wenn sie dich schnappen?«
Pippig wurde ärgerlich: »Pippst du oder pipp – ich?«
Wunderlich lachte. Sie berieten die Sache, die nicht so einfach war, denn wie kam Pippig an die Milch heran? Er konnte sich ein »Bewerbchen« nach »draußen« verschaffen und ein paar alte Klamotten zur SS-Schneiderei bringen. Das war möglich. Die Milch musste demnach zur Schneiderei gebracht werden.
Wunderlich blickte sich im Block um und winkte einen Läufer zu sich heran.
»Was ist?«, fragte dieser, als er zum Tisch trat.
»Hör zu, du kommst morgen früh mal zu mir und bringst eine Flasche Milch zur Schneiderei. Rudi holt sie sich dort ab.«
Der Läufer reichte Pippig die Hand zum Gruß: »’n Abend, Rudi.«
»’n Abend, Alfred.«
Für den Läufer war der Auftrag eine Kleinigkeit, er kam im ganzen SS-Bereich herum.
»Ist gemacht«, sagte er darum nur, ohne viel zu fragen, denn das Besondere wurde stets als das Selbstverständliche getan.
»Nun müssen wir Otto noch Bescheid sagen«, meinte Wunderlich und ging mit Pippig nach dem anderen Flügel des Blocks.
Otto Lange, der Kapo von der SS-Schneiderei, ein älterer, ehemals selbständiger Schneidermeister, der wegen Flüsterpropaganda ins Lager
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