Nackt unter Wölfen
waren.
Zwei Tage erst waren vergangen, aber sie waren angefüllt mit einer Last, die nach Jahren zu zählen schien. Der ganze Apparat war lahmgelegt worden, und in den einzelnen Widerstandsgruppen hatte die Nachricht von der Verhaftung eine Erstarrung ausgelöst. Die Genossen der Gruppen vermieden jedes Gespräch. Wenn sie sich im Lager begegneten, gingen sie aneinander vorbei und grüßten sich nur mit einem verstohlenen Blick. Sie durften sich nicht kennen. Unheil lag in der Luft. Als sich am ersten und auch am zweiten Tag nichts ereignete, war das keinesfalls eine Beruhigung. Jeder hatte das Gefühl, als ob sich die Gefahr nur tückisch verstecken würde, um in dem Augenblick hervorzubrechen, wenn man glaubte, erlöst aufatmen zu können. So erging es allen.
Auch das ILK hatte sich streng isoliert. Der Einzige, mit dem Bochow in diesen beiden Tagen zusammentraf, war Bogorski. Die Informationen, die Krämer ihm über das Verhalten Höfels gebracht hatte, gaben Bochow eine gewisseSicherheit, eine Zusammenkunft mit den Genossen des ILK riskieren zu können. Bogorski war damit einverstanden, und am Abend kamen die Genossen in der Fundamentgrube der Revierbaracke zusammen. Sie waren sehr schweigsam, und schweigend auch nahmen sie Bochows Bericht entgegen. Sie erfuhren die Zusammenhänge. Das Kind war willkommener Anlass für Kluttig und Reineboth, die verborgenen Spuren des Apparats aufzustöbern. Sie erfuhren, dass Höfel und Kropinski unerhört gemartert wurden, und wussten, dass es für die beiden eine Zerreißprobe war. Nur eines wussten sie nicht: das, was morgen sein würde oder übermorgen …
Die Zukunft war mit Explosivstoff geladen.
Sonst ging es bei den Besprechungen lebhaft zu, heute saßen sie um die kleine Kerze, die leise knisterte, und sprachen kaum ein Wort. Die Ruhe nach der Verhaftung war trügerisch, und sie misstrauten ihr. Was Bochow so schmerzvoll durchlebt hatte, das durchlebten jetzt die schweigenden Männer um ihn herum.
Wie sorgfältig war der Aufstand vorbereitet. Was war im Laufe der Zeit an Waffen und Munition herangeschleppt worden, gefahrvoll und heimlich. Manchmal hatte ein waghalsiges Unternehmen an einem seidenen Faden gehangen. An alles war gedacht worden. Tausende von Verbandpäckchen lagen an sicheren Stellen im Revier bereit. Medikamente waren gehortet worden, Operationsinstrumente abgezweigt. Brechstangen, isolierte Drahtscheren für den Zaun, alles war da.
Es gab Operativpläne für die Stunde der Befreiung. Die Kampfgruppen der einzelnen Nationalitäten waren für diese Stunde vorbereitet, längst festgelegt deren Aufgaben. Schon war das Lager in Kampfsektoren aufgeteilt. Stoßkeilartige Aktionen nach den verschiedenen Richtungen sollten die Kampfhandlungen einleiten. Die polnischen Gruppen hatten nach dem Norden des Lagers durchzubrechen. Die sowjetischenGruppen waren für den Sturm auf die SS-Mann schaftskasernen vorgesehen. Die Gruppen der Franzosen, der Tschechen, der Holländer und der Deutschen mussten den Bereich der Kommandantur in Besitz nehmen. Der Gesamtstoß hatte sich in westlicher Richtung zu vollziehen, um die Verbindung mit dem nahenden Amerikaner herzustellen und den Aufstand zu sichern.
Spezialtrupps für besondere Aufgaben befanden sich unter den Gruppen. Die weitverzweigte Organisation, unsichtbar, ungreifbar, allgegenwärtig und für jede Stunde schlagbereit, war ein kunstvolles Werk der Konspiration. Wenn die Stunde gekommen war, dann konnte der Sturm losbrechen. Aber die Stunde war noch nicht da und der Amerikaner noch weit … Jetzt aber lag ein Mann da oben in verlassener Zelle … Ein Wort von ihm genügte, ein Wort aus vergessener Vorsicht oder aus Lebensangst, und der Boden des Lagers würde sich öffnen und seine Geheimnisse preisgeben. Waffen, Waffen! Noch ehe 50 000 ahnungslose Gefangene das Unerhörte begriffen hätten, würde ein wüster Sturm der Vernichtung dahinbrausen über das Lager …
Die Genossen stierten vor sich hin, starrten in die knisternde Flamme der Kerze. Verhalten und ruhig gab Bochow seinen Bericht. Er erzählte, dass Höfel und Kropinski bis jetzt tapfer durchhielten. Sie hörten zu, die vielen Gehirne wurden zu einem Gehirn, in dem die Gedanken aller zusammenschmolzen.
Darum auch brauchte es keiner Worte. Aber das Schweigen nagte in ihren Gesichtern. Bochow wurde unwillig. »So geht es nicht, Genossen. Zusammensitzen und die Köpfe hängenlassen? Verdammt noch mal! Wir müssen überlegen, was wir tun können,
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