Nackt unter Wölfen
Lager ist ein kleines Kind versteckt und bringt alle in Verwirrung. – Wo es eigentlich sei, wollte Pribula wissen. Bogorski hob beschwichtigend die Hand. Es befinde sich im Block 61 des Kleinen Lagers, keine Sorge, fügte er schnell hinzu, es sei gut untergebracht … Er blickte reihum. Ist es nicht im Grunde unser aller Kind, nachdem seinetwegen schon zwei Genossen in den Bunker mussten? – Wäre es nicht Aufgabe des ILK, das Kind unter seinen Schutz zu stellen? – Auf einmal lächelte Bogorski. Viel wichtiger wäre es jetzt, dem Kind etwas Anständiges zum Futtern zu verschaffen. Dabei blickte er mit verkniffenem Auge auf Riomand. Der französische Koch verstand sofort, lachte und nickte. Bogorski lachte zurück. Charascho! Ist es ein Knabe oder ein Mädchen? Bochow, an den die Frage gerichtet war, sagte unwirsch: »Ich weiß es nicht.«
Bogorski stemmte die Arme in die Seiten und rief in komischer Verwunderung: »Wir haben ein Kind, und wir nicht einmal wissen, ob es ist Bub oder Mädchen …« Das reizte alle zu einem Lachen, die hängenden Köpfe hoben sich. Bogorski wurde es leichter ums Herz. Die Genossen lebtensichtlich auf und begannen zu diskutieren. Konnte man Höfel und Kropinski helfen?
Abenteuerliche Pläne tauchten auf, sie reichten von der gewaltsamen Befreiung bis zum Aufstand, mussten aber alle wieder verworfen werden. Das Gespräch führte zu der Erkenntnis, dass es unmöglich war, die beiden aus den Klauen des Mandrill zu befreien. Bochow hatte schnell begriffen, dass Bogorskis sonderbare Art des Eingreifens nur eine Brücke gewesen war, die Niedergeschlagenheit zu überwinden, war er ihr doch selbst zum Opfer gefallen. Sein Unwille schwand umso schneller, als er den Genossen die abenteuerlichen Pläne ausreden musste. Es gab nur eine Möglichkeit zur Rettung, eine wenig aussichtsreiche, erklärte er und entwickelte seinen mit Krämer besprochenen Entschluss, Zweiling dafür auszunutzen. Ein Akt der Verzweiflung! Doch welcher Weg blieb sonst noch offen? Die Genossen des ILK billigten den Versuch. Doch immer wieder kehrte die Sorge zurück. Sie fraß sich durch alles hindurch. Was war zu tun, wenn Höfel nicht standhalten würde? – Bogorski schnitt die fruchtlose Fragerei ab. Nichts war zu tun, gar nichts, wiederholte er schroff. Oder wollte jemand etwa auf Transport gehen? – Hatten die Genossen auf Bochows Frage noch betreten geschwiegen, so rumorten sie jetzt dagegen. Keiner wollte das Lager verlassen, alle wollten sie bleiben. Charascho! Bogorski nickte. Er hatte selbst nicht an den Ernst von Bochows Vorschlag geglaubt, wusste, dass dieser ihn nur aus seinem unsinnigen Schuldgefühl heraus gemacht hatte. Doch die Depression war überwunden. Wenn die heutige Zusammenkunft kein anderes Ergebnis haben konnte als dieses, dann war schon viel gewonnen. Die Angst musste zuerst erschlagen werden, sie war der gefährlichste Feind.
»Auch ich, Genossen, haben Angst«, sagte Bogorski, »aber müssen wir haben auch Vertrauen. – Bis jetzt hat Höfel allen Torturen getrotzt! Wer gibt uns das Recht, an ihm zu zweifeln?Zweifeln wir damit nicht an uns selber? Die Gefahr liegt nicht so sehr bei Höfel und seinem polnischen Bruder, sie liegt bei den Faschisten. Von Küstrin und Danzig bis hinunter nach Breslau drückt die Rote Armee die Faschisten immer tiefer nach Deutschland hinein. Die zweite Front ist schon bis Frankfurt durchgestoßen.« Bogorski machte mit den Armen eine ausladende Bewegung, als hole er aus weitem Raum etwas zusammen, und drückte die Fäuste aneinander.
»So, Genossen, sieht es aus«, sagte er mit verhaltener Kraft. »Je näher die Faschisten das Ende kommen sehen, desto wilder werden sie. Hitler und auch Schwahl und Kluttig. Sie wollen uns vernichten, wir wissen es doch. Darum setzen wir ihnen im Verborgenen unsere Kraft entgegen. Solange wir stark bleiben, wie Höfel und Kropinski – ja«, rief Bogorski, sich an seiner eigenen Begeisterung entzündend – »ja, sie werden stark bleiben! Solange wir es auch sind, werden die Faschisten die verborgene Kraft nicht entdecken, aber sie werden sie spüren. Lasst sie suchen, sie werden nichts finden. Keine Patrone und keinen Mann.« In seinen geballten Händen, die wie zwei Steine auf den Knien lagen, war Kraft. »Die Faschisten«, fuhr er beherrschter fort, »haben uns die Köpfe kahlgeschoren, haben uns das Gesicht genommen und den Namen. Haben uns eine Nummer gegeben, haben uns die Kleider ausgezogen und uns in Streifen gesteckt
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