Nackt
ins koloniale Williamsburg.
«Wie niedlich!», sagten sie kriecherisch angesichts eines Weihnachtsmannes aus Seidenpapier, der die Lobby schmückte. «Ist er nicht niedlich? Erst neulich habe ich zu Hassie Singleton gesagt: ‹Dieser Sankt Nikolaus ist ja wohl das Niedlichste, was ich je gesehen habe!› Und wo wir gerade von ‹niedlich› sprechen, wo hast du bloß diesen Trainingsanzug gekauft? Meine Güte, ist der niedlich!»
Das Wort niedlich illustrierte genau die Kluft zwischen der Ya Ya und ihren neuen Nachbarn. Wenn man es in all seiner Lächerlichkeit konsequent anwandte, traf dieses allgemeine Losungswort auf nichts zu, was mit ihrem Leben zu tun hatte. Sie besaß weder Make-up noch Schmuck, trug keine luftigen, paillettenbestickten Sweatshirts oder Maßhosen. Ihre Tür war frei von jahreszeitlichem Buntpapier, und einen Square-Dance-Kurs belegte sie ebenso wenig, wie sie sich den Baptistinnen zu einer Besichtigungstour der historischen Strumpfhosenfabrik in Winston-Salem anschloss. Sie verließ ihr Apartment nur, um den Gemeinschaftsgarten zu durchwühlen oder um still schluchzend im Empfang zu sitzen, wobei sie sich die Augen mit dem Papier der jeweils aktuellen Festtagsdekoration trocknete. Dies war nicht das Bild, welches sich die Capitol Towers nach außen wünschten. Hier waren robuste Senioren, die hofften, aus ihrem Ruhestand das Beste zu machen, und der Anblick unserer trauernden schwarzgekleideten Ya Ya ließ ihnen zu sehr die Luft raus. Die Geschäftsleitung deutete an, sie könne sich vielleicht woanders noch behaglicher fühlen. Juristisch erfüllte sie ihre Wohnrechtsbedingungen, aber seelisch war sie zu düster schattiert. Sie begannen sie im Auge zu behalten, ob sie ihr irgendeine Formsache anhängen konnten, und waren außer sich vor Freude, als sie eines Nachmittags einschlief und mit ihrem vergessenen Bügeleisen einen kleinen Brand verursachte. Gezwungen, Capitol Towers zu verlassen, nahm die Ya Ya ihren Wohnsitz in oder auf Mayview, einem gedrungenen Altersheim aus roten Ziegeln, direkt neben dem alten Kreisarmenhaus. Hier wohnten ältere, beträchtlich weniger mobile Menschen als die Bande vom Capitol Towers. Viele der Insassen waren an den Rollstuhl gefesselt, ihre gefleckte Kopfhaut war durch Büschel ungekämmten Haars sichtbar. Sie bepinkelten sich, saßen furzend in der Eingangshalle und kicherten anerkennend über die Trompetentöne, die ihren Schlafanzügen entwichen. Mayview unternahm – im Gegensatz zur vorherigen Bleibe der Ya Ya – keinerlei Anstrengungen, das Unvermeidliche zu bemänteln. Von wohlverdienten goldenen Jahren war keine Rede, nichts war mit Busfahrten oder Kunsthandwerk mit Tombola. Dies war es, Endstation, wir bitten, vor dem Aussteigen noch einmal gründlich in den Gepäckfächern über dem Sitz nachzusehen, damit nichts liegenbleibt.
Es war ein trauriger Ort, um die Nachmittage zu verbringen, und anstatt den Todeskampf ihrer Zimmergenossin zu ertragen, brachte mein Vater die Ya Ya oft zu uns nach Hause, wo sie in der Einfahrt saß und vor sich hin starrte, bis es dunkel genug war und sie ein paar Motten fangen konnte.
Eines Abends saß sie mit uns im Hintergarten beim Essen, als mein Vater, der versuchte, sie ins Gespräch mit einzubeziehen, sagte: «Ihr immer mit euern Schauergeschichten. Habe ich euch je erzählt, dass die Ya Ya ihren eigenen Bruder tot mitten auf der Straße gefunden hat? Der Typ war vom Kinn bis zum Schritt aufgeschlitzt, nur so aus Quatsch von Rebellen ermordet. Ihr eigener Bruder! Könnt ihr euch so was vorstellen?»
«Ich stell mir das jeden Tag vor», sagte meine Schwester Lisa. «Warum hat sie immer so viel Glück?»
«War da viel Blut?», fragte ich. «Hat er sich in die Hose gekackt? Ich hab gehört, das macht man, wenn man stirbt. Fühlten sich seine inneren Organe weich an, oder waren sie von der Sonne verhärtet? Wie alt war er? Wie hieß er? War er niedlich?»
Die Ya Ya wandte den Blick ab, auf den Basketballplatz der Nachbarn. «In Name von Segne-Jesus», sagte sie und bekreuzigte sich mit einem gegrillten Hühnerbein.
Es machte einen wahnsinnig, wenn man versuchte, Informationen aus ihr herauszubekommen. Da hatte sie nun ein völlig gebanntes Publikum und eine grausige Geschichte, war aber nicht willens, sie mitzuteilen. Mein Vater hatte uns mehrmals erzählt, dass ihre Heirat arrangiert gewesen war. Als junge Frau war sie aus ihrem Dorf in Griechenland nach New York City geschickt worden, wo sie gezwungen war,
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