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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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«genommen» hatte, aber nicht «gestohlen». Das war ein großer Unterschied. Man stiehlt die Dinge, die man begehrt, während man die Dinge, die der eigentliche Eigentümer nicht recht zu schätzen weiß, nimmt. Der Drehbleistift hatte mir gesagt, wie sehr man ihn vernachlässige, und ich hatte mich erbötig gemacht, ihn einem guten Verwendungszweck zuzuführen. Nehmen ist Borgen ohne die Formalitäten. Ich hatte ohnehin vorgehabt, ihn zurückzugeben, sobald die Mine alle war …; was sollte die ganze Aufregung? Das war nicht das ganz große Indiz, mit dem ein Fall steht und fällt; da konnte er sich noch so sehr anstrengen. Es gab keine schmetternden Trompeten oder Verfolgungsjagden mit stark überhöhter Geschwindigkeit, nur einen dämlichen Drehbleistift, den ich aus reiner Geltungssucht verwendet hatte. Sobald mein Vater und sein Drehbleistift wiedervereinigt waren, wurde ich zum Hauptverdächtigen, durch einen reinen Indizienprozess überführt. Nichts, was ich vorbrachte, konnte ihn umstimmen.
    «Hast du das Geld schon ausgegeben, oder hast du’s im Garten vergraben?», fragte meine Schwester Lisa. Vergraben? Jetzt war ich Dieb und Pirat.
    Eines Verbrechens überführt, welches ich nicht begangen hatte, gab es für mich nur eins. Die Schuhkrem wurde im Wäscheschrank aufbewahrt. Ich entschied mich für schwarz und massierte sie mir, bestrebt, meine Identität zu ändern, in die Kopfhaut.
    Dr. Kimbles Haar wirkte immer vollkommen natürlich. Es wehte in der Brise, die von entgegenkommenden Lastwagen erzeugt wurde, wenn er einsam an der Straße ins Nirgendwo stand und von einer Stadt Abschied nahm, die es versäumt hatte, seine einzigartigen Begabungen zu würdigen. Mein Haar wirkte unbehandelt ziemlich genauso, als aber die Schuhwichse trocknete, verhärtete es sich zu einer steifen, einheitlichen Masse, die meinen Kopf wie ein Helm bedeckte. Ich ging zu Bett, und als ich aufwachte, waren Laken und Kissen verschmiert und verdorben. Gesicht und Arme sahen aus wie mit Druckstellen übersät, und alles stank streng und militärisch nach Putzleder. Kein Wunder, dass Dr. Kimble ein Einzelgänger war. Glanz und Farbe meiner Haare gefielen mir, aber ich musste es glatt nach hinten kämmen, um eine saubere Stirn zu behalten. Diese Frisur war kugelfest. Man hätte mir mit einem Golfschläger auf den Kopf hauen können und ich hätte nichts gespürt. Ich trug meine verschmutzten Laken in die Wälder und wusste, dass von nun an alles anders sein würde. Ich hatte einen gewissen Punkt überschritten und nun gab es kein Zurück mehr.
    Nachdem ich meine Identität abgeändert hatte, bestand der nächste Schritt darin, den wahren Dieb zu finden und meinen Namen reinzuwaschen. Meine Mutter und Lisa sagten gern: «Der Verbrecher kehrt immer an den Ort des Verbrechens zurück.» Zwar war dies eine wohlfeile Weisheit, die sie aus einer ihrer Fernsehserien hatten, aber ein Versuch konnte nicht schaden. Auf den oder die, der oder die sich den Arsch mit Handtüchern abwischte, traf es schon mal zu, andererseits hatte der oder die aber gar keine andere Wahl. In den Badezimmern waren nun mal die Toiletten untergebracht, und selbst wenn er oder sie sich geändert hatte, musste er oder sie immer noch aufs Klo. Außer den Silberdollars beherbergten die Schubladen meines Vaters noch mehrere Taschenuhren, ein Paar spielwürfelförmige Manschettenknöpfe, Krawattennadeln, schicke Feuerzeuge und ein Kartenspiel mit Aktmotiven, bei dem sowohl Herz-König als auch Pik-As fehlten.
    In Erwägung also, dass der Dieb guten Grund hatte, dorthin zurückzukehren, wo es noch so viel zu holen gab, startete ich eine Überwachungsaktion. Der Kleiderschrank meines Vaters hatte Türen mit geschrägt waagerechten Holzlamellen, welche freie Sicht auf den gesamten Raum ermöglichten. Ich bezog Posten und musste eine geschlagene Stunde warten, bevor meine Mutter den Raum betrat und rief: «Es ist mir ja so was von wurscht, wie sie das auf dem Olymp machen, aber in diesem Haus wird ein SiebenDollar-Steak nicht in siedendem Wasser gegart!» Intuitiv erfasste ich, dass sie mit meiner Großmutter sprach. Sie knallte die Tür hinter sich zu und setzte sich auf den Rand eines ungemachten Bettes. Sie starrte ihre nackten Füße an, und dann sagte sie, als erwarte sie von ihnen eine Entschuldigung für etwas, was sie gerade verbockt hatten: «Nun, was haben wir dazu zu sagen?» Sie pulte kurz an einem Zehennagel und durchquerte dann das Zimmer, um eine Flasche mit

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