Nackt
ihrer abgerissenen Polizeiuniformen hindurch Schüsse setzten. Es berührte mich peinlich, wenn sie Ausdrücke wie «eine Pumpe aufziehen» und «Pusher» verwendete. «Na, ich muss dann mal los», sagte sie zu dem Mann im Lebensmittelladen. «Meine Schwiegermutter ist voll auf Mittagessensentzug.»
«Wie bitte?», fragten dann die Lebensmittelleute und fügten in ähnlich fragendem Tonfall hinzu: «Bis bald?»
Nur im Fernsehen sprachen die Menschen so.
«Ich such uns was Schönes im Fernsehen raus», sagten meine Mutter und meine Schwester. Egal, was man sich gerade ansah, wenn sie einen der Fernseher beanspruchten, gab man auf, wie ein Autofahrer, der rechts ran fährt, wenn er die Sirene eines Krankenwagens hört. Die Detektivserien ertrug ich nicht, aber ich verpasste keine einzige Folge von Auf der Flucht. Das war die Geschichte von Dr. Richard Kimble, einem Mann, der immer wegrannte, fälschlich eines Verbrechens bezichtigt, welches er nicht begangen hatte. Während des Vorspanns erfahren wir, dass «er seinen Namen änderte … und seine Identität». Die Sache mit der Identität wurde durch eine Dose Schuhwichse illustriert, die auf etwas stand, was die abgewetzte Oberfläche einer Motel-Kommode zu sein schien. Das hat mich monatelang überfordert. «Wieso?», fragte ich. «Hätte ihn mit frisch gewienerten Schuhen keiner erkannt? Hat er sich das Gesicht mit Schuhkrem eingefärbt? Ich kapier es nicht.»
«Die Haare, du Doof», sagte Lisa. «Er hat sich damit die Haare gefärbt.» Lisa mochte Auf der Flucht, «weil», wie sie sagte, «die Serie die Augen schont. Da gibt es nicht so viel zu sehen».
So, wie sie es sah, brauchte Dr. Kimble nur zweierlei: einen einarmigen Verdächtigen und die Liebe einer guten Frau. Es wollte ihr nicht in den Kopf, dass es trotz seinem grüblerisch guten Aussehen einfach nicht in der Natur dieses Mannes lag, glücklich zu sein. Im Gegensatz zu ihrem allabendlichen Aufgebot an großtuerischen Schnüfflern hatte dieser Flüchtling sowohl eine Seele als auch ein Gedächtnis und würde noch lange, nachdem der wahre Mörder seiner Frau der Gerechtigkeit zugeführt worden war, ein Gehetzter bleiben. Die meisten Serien wollten gar nicht, dass man sich auf das dunkle innere Wirken des Helden konzentrierte. Wenn die Freundin am Schminktisch abgeknallt wurde, wusste man, in der nächsten Folge gibt es eine neue, ohne dumme Fragen. Dr. Kimble hatte kein schickes Cabrio und keine modische Hausbar. Er war aus dem gleichen Stoff wie ich, dem Stoff, der kratzt. Lisa hätte keinen sensiblen Einzelgänger erkannt, wenn er ihr mit einer Faust voll Gänseblümchen auf den Schoß gekrabbelt wäre, und es verärgerte mich, wenn sie Auf der Flucht «eine Serie nach meinem Geschmack» nannte.
Vor dem Fernseher zu sitzen und bei drittklassigen Detektivserien im Nachhinein Vermutungen anzustellen, war das eine. Das andere war, einen echten Fall zu lösen. Wir waren bereits weit bis in die sommerlichen Wiederholungen vorgedrungen, als unser Haushalt von einer Serie sehr realer Verbrechen erschüttert wurde, die kein Fernseh-Detektiv je knacken zu können hoffen würde. Jemand in unserer Familie hatte sich angewöhnt, sich seinen oder ihren Arsch mit dem Handtuch abzuwischen. Besonders störend war dabei, dass all unsere Hand- und Badetücher sirupfarben waren. Man trocknete sich gerade die Haare ab, und plötzlich bemerkte man einen Geruch an Händen, Kopf und Gesicht, der keine Zweifel zuließ. Wenn das Leben in der Vorstadt schon sonst nichts versprach, so doch, dass man sich von Tag zu Tag hangelte, ohne Scheiße im Haar vorzufinden. Diese plötzliche Wendung stellte unser Selbstverständnis auf eine harte Probe, sodass wir uns fragten, wer wir waren und wo wir, als Volk, versagt hatten. Außer Gewissensprüfungen erforderte dies auch noch jede Menge heißes Wasser, literweise Shampoo, Stahlwolle, profimäßige Schrubberbürsten und blöckeweise schroff riechende, desodorierende Seife. Der oder die Kriminelle schlug in allen drei Badezimmern zu und pausierte nur lange genug, um die übrigen in Sicherheit zu wiegen. Da konnte man zwanzig Minuten lang sorgfältig das Handtuch abschnuppern, um dann doch nur zu entdecken, dass das Arschloch diesmal den Waschlappen benutzt hatte.
«Eins», sagte meine Mutter eines Morgens und blätterte die Sonntagszeitung durch, «ist sicher: Die Person, die das macht, ist ganz schön krank.»
«Und sie isst Mais», fügte Lisa hinzu, die sich gerade die Haare mit
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