Nackt
einen T-Shirt abtrocknete. Sie war das letzte Opfer gewesen und hatte sich so oft die Haare gewaschen, dass sie jetzt aussahen wie die drahtige, synthetische Mähne einer Trollpuppe.
Jeder hatte Theorien, aber niemand hatte Beweise. Wenn man meine Eltern unberücksichtigt ließ, blieben immer noch sechs Kinder und meine Großmutter, sämtlich mögliche Verdächtige. Mich selbst schloss ich aus, und weil die Handtücher ordentlich gefaltet waren, war auch mein Bruder aus dem Schneider, welcher bis zum heutigen Tag zu einer so komplexen Verrichtung nicht fähig ist. Es musste doch schmerzen, ein raues Frottiertuch zu einem so delikaten Zweck einzusetzen. Ich beobachtete meine Familie, wie sie bei Tisch ihre Plätze einnahm, und wartete, dass jemand aufschrie oder -zuckte, aber nichts geschah.
Meine Mutter und Lisa hatten sich immer für so gerissen und schlau gehalten, aber wenn man sie bedrängte, sie sollten einen Verdächtigen nennen, sagten sie, dieser Fall sei unter ihrer Würde. Falls jemand ermordet oder entführt würde, würden sie angemessen reagieren und die schuldige Partei innerhalb einer Stunde ermitteln. Dieser spezielle Fall jedoch falle unter «groben Unfug» und sei somit ihrer professionellen Zuwendung nicht wert. Wer es auch gewesen sei (und immer noch sei), er oder sie würde auf die Stimme des Gewissens hören und früher oder später gestehen. Bis dahin würde meine Mutter den Wäscheschrank mit weißen Handtüchern auffüllen. Fall abgeschlossen.
Noch im selben Monat durchstöberte jemand die oberste Schublade meines Vaters und stahl einen Kniestrumpf mit einhundertzwei «Liberty»-Silberdollars. Ich kannte die Schubladen meines Vaters so gut wie meine eigenen; jeder kannte sie. So vertrieb man sich die Zeit, wenn man das Haus für sich allein hatte –, man durchwühlte die Schubladen meines Vaters, bevor man sich seinem zweiten Versteck, dem Schuppen, zuwandte. Ich hatte diese Münzen oft gesehen und gezählt. Wir alle hatten sie oft gesehen und gezählt, aber wer würde so weit gehen, sie zu stehlen?
Mein Vater versammelte uns alle im Esszimmer und hörte zu, wie wir nacheinander unsere Täterschaft bestritten. «Dollars gibt es auch in Silber? Das hab ich ja noch gar nicht gewusst. Werden sie von der Regierung gleich im Kniestrumpf ausgegeben, oder war das deine Idee?»
«Okay», sagte mein Vater. «Na gut, na schön, verstehe. Niemand hat meine Münzen genommen. Wahrscheinlich hatten sie es einfach satt, so zusammengepfercht in der blöden Kommode zu wohnen, und da haben sie beschlossen, sie kullern einfach zur Tür hinaus und verjubeln sich selbst für Süßigkeiten und Schundhefte. Genau so ist es passiert, stimmt’s? Eben jetzt, während wir hier sprechen, sind sie bestimmt dort draußen in der großen Welt und amüsieren sich wie Bolle, oder?» Seine Stimme hatte ihre höchste Lage erreicht, und er rieb sich die Hände, als betrachte er ein Tablett mit erlesenen Nachspeisen. «Endlich frei und das ganze Leben noch vor sich! Spürt ihr nicht, wie aufregend das ist? Will man da nicht unwillkürlich mit den Armen wedeln und laut schreien?»
Er senkte die Stimme und stellte eine Reihe von Ultimaten, die ich nicht ganz begriff. Ich musste an diese jubelnden Silberdollars denken, heiser und schwindlig im ersten Rausch der Unabhängigkeit. Ich malte mir aus, wie sie sich in Gruppen aufteilten und nur bei Nacht reisten, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Es könnte sich als schwierig erweisen, über Gras und Blätter zu rollen, also stellte ich sie mir aneinander gekauert in der Einfahrt vor, wo sie beschließen, sich an Straßen und Bürgersteige zu halten. Beim Gedanken daran musste ich lachen, und als ich lachte, sagte mein Vater: «Du findest das komisch? Zum Kichern ulkig? Wie schön, dass es dich so amüsiert. Mal sehen, wie komisch es ist, wenn ich dein Zimmer durchsuche, Spaßvogel.»
Im Fernsehen bedeutete ein Durchsuchungsbefehl, dass die Wohnung verwüstet wird, und in meinem Fall war es nicht anders. Mein Zimmer war der einzige saubere Raum im ganzen Haus. Es war mein Schrein, mein Tempel, und ich sah entsetzt mit an, wie meine Schubladen ausgeleert und meine Schränke brutal in Unordnung gebracht wurden. Als er meinen Schreibtisch durchsuchte, stieß mein Vater auf einen vergoldeten Drehbleistift, den er als sein Eigentum wiedererkannte. Dieser hatte sich einst in derselben Schublade aufgehalten wie seine Münzen, und ich gab zu, dass ich, ja, den Drehbleistift
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