Nackt
beherrschte meine Mutter. Nur von Schauspielerei, dachte ich, verstand sie nichts.
Wir hatten bereits Kostümprobe, als der Regisseur an Lois mit einem neuen Projekt herantrat, welches er im kommenden Herbst zu inszenieren hoffte. Es sollte ein Musical werden, das auf dem Leben ungebunden herumziehender Zigeuner basierte. «Und du», sagte er, «sollst meine kecke Banditenkönigin sein.»
Lois konnte nicht singen; das wusste jeder. Sie konnte auch nicht schauspielern oder das Tamburin bedienen. «Du hast das Herz einer Zigeunerin», sagte er und kniete vor ihr im Gras. «Die stets erregte Seele der Nomadin.»
Als ich mein Interesse zu verstehen gab, meinte er, die Arbeit hinter den Kulissen könnte mir vielleicht Spaß machen. Er fand, ich sollte Scheinwerfer aufhängen oder Soffitten schleppen, einer dieser Typen mit den tiefhängenden Hosen werden, deren Werkzeuggürtel schwer an Schraubenschlüsseln und dicken Rollen Inspizienten-Klebeband zu tragen hatten. Jeder, der annahm, man könne mir elektrische Kabel anvertrauen, musste ein kompletter Idiot sein, und genau das war dieser Mann. Da sah ich ihn plötzlich, wie er war, und bemerkte, wie unvorteilhaft die Strumpfhose seine schlaffen Waden und sein schwabbeliges kleines Gemächt betonte. Stets erregte Seele der Nomadin, aber hallo. Wenn er so was von beschissen bedeutend war, was machte er dann in Raleigh? Seine Fönfrisur, die billigen halbhohen Hacken und regenbogenfarben gestreiften Hosenträger …: alles Schwindel. Warum trägt man einen Hosenträger zur Strumpfhose, wenn alles, was eine Strumpfhose kann, ist, dass sie ohne fremde Hilfe oben bleibt? Deshalb heißt sie ja Strumpfhose, oder? Und als Schauspieler? Der Mann spielte, als wäre das Publikum schwerhörig. Er rief seinen Text, grinste wie ein ausgehöhlter Kürbis und wedelte mit den Armen, als stünden seine Ärmel in Flammen. Seiner Art von Mimentum war es ja schon immer gelungen, mich peinlich zu berühren. Ihn zu sehen war, als öffne man einem singenden Telegrammboten die Tür: Man weiß, es soll unterhaltend sein, aber man kommt nicht über die traurige Tatsache hinweg, dass dieser Mensch doch wirklich glaubt, er bringe einem etwas Freude ins Leben. Irgendwo dort draußen hatte er eine Mutter, die einen Schuhkarton mit hektographierten Programmzetteln sortierte, sich einen Schnaps nach dem anderen einschenkte und sich fragte, wann ihr Sohn wohl zur Vernunft kommen und etwas Abflussfrei schlucken würde.
Endlich sah ich Hamlet als das, was er wirklich war, und erkannte in mir den dumpfen Yorick, der ihm immer blind gefolgt war.
Meine Mutter ging in die Premiere. Nachdem ich mein bleiernes «Ja, gnäd’ger Herr» aufgesagt hatte, legte ich mich auf die grasbewachsene Bühne, und Lois träufelte mir aus einer Phiole falsches Gift ins Ohr. Als ich im Sterben lag, öffnete ich nur einen Schlitz breit die Augen und sah meine Mutter, auf ihrem harten Steinstuhl ausgestreckt und die Motten abwehrend, welche, zusammen mit ein paar Dutzend älterer Mitbürger, vom Licht angelockt worden waren.
Danach gab es eine Premierenfeier, aber ich ging nicht hin. Ich zog mich in der Garderobe um, wo die Schauspieler standen und einander gratulierten, wobei sie immer wieder die Wörter «Leuchtkraft» und «Intensität» gebrauchten, als beschrieben sie die Rampenlichter. Horatio fragte mich, ob ich für ihn Zigaretten holen gehe, ich steckte sein Geld ein und versprach, «geschwinde wie der Blitz, o Herr» zurück zu sein.
«Du warst der Beste in der ganzen Aufführung», sagte meine Mutter und hielt auf dem Nachhauseweg kurz an, um eine Tief-kühl-Pizza zu kaufen. «Wirklich wahr. Du bist auf die Bühne gekommen und alle haben nur noch dich gesehen.»
Da ging mir auf, dass meine Mutter ein besserer Schauspieler war, als ich je zu werden hoffen konnte. Die Schauspielerei ist etwas anderes als Posieren oder So-tun-als-ob. Wenn sie mit Präzision betrieben wird, hat sie eine frappierende Ähnlichkeit mit Lügen. Der Kostüme und großen Gesten beraubt, präsentiert sie sich als eine unbestreitbare Wahrheit. Ich beneidete meine Mutter nicht um ihr Können, aber ich widersprach ihr auch nicht. So überzeugend war sie. Als ich so neben ihr saß, mit einer Pizza, die auf meinem Schoß allmählich auftaute, schien es mir das beste, mich einfach zurückzulehnen und zu lernen.
Dinah, die Weihnachts-Hure
M ein Vater war der festen Überzeugung, nichts bilde den Charakter besser heran als ein Job nach der Schule.
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