Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
Vom Netzwerk:
Er selbst hatte mit dem Schlitten Zeitungen ausgetragen und Lebensmittel an die Tür gebracht und seht ihn euch an! Meine ältere Schwester Lisa und ich entschieden, wenn harte Arbeit seinen Charakter geprägt hatte, wollten wir nichts damit zu tun haben. «Danke, aber danke nein», sagten wir.
    Als zusätzlichen Ansporn strich er uns das Taschengeld und ein paar Wochen später arbeiteten sowohl Lisa als auch ich in Cafeterias. Ich wusch Geschirr im Piccadilly, während Lisa das Personal an den Warmhalteplatten im K & W verstärkte. In Raleighs erstem überbauten Einkaufszentrum gelegen, war ihre Cafeteria ein Klubhaus für die ortsansässigen älteren Mitbürger, die einen ganzen Nachmittag über einer einzigen Portion Reispudding gekauert verbringen konnten. Das K & W hatte seine beste Zeit hinter sich, wogegen meine Cafeteria im funkelnagelneuen Crabtree Valley lag, einem früheren Sumpf, der ihre Mall aussehen ließ wie einen staubigen Marktplatz für primitive Stämme. Das Piccadilly hatte rote Samtwände und einen Speisesaal, der von künstlichen Fackeln erleuchtet war. Eine Ritterrüstung markierte den Eingang zu diesem Schloss der Schlemmerei, allwo, wie man uns gesagt hatte, der Kunde immer König war.
    Als Tellerwäscher verbrachte ich meine Schichten damit, Tabletts von einem Fließband zu wuchten und ihren Inhalt in eine enorme, bösmäulige Maschine zu füttern, welche brüllte und spie, bis ihre Beschickung, frei von erstarrtem Fett und Tunk, dampfend auf der anderen Seite wieder herauskam, wodurch meine Brille beschlug und die Luft sich mit dem barschen Geruch von Chlor füllte.
    Hitze und Lärm konnten mir gestohlen bleiben, aber davon abgesehen, machte mir mein Job Spaß. Die Arbeit beschäftigte meine Hände, aber der Kopf blieb frei für wichtigere Dinge. Manchmal paukte ich die Liste unregelmäßiger spanischer Verben, die ich über der Spüle angebracht hatte, aber meistens gab ich mich Phantasien über eine Fernsehkarriere hin. Ich träumte davon, eine Fernsehserie zu kreieren und in ihr die Hauptrolle zu spielen, die Sokrates & Konsorten heißen sollte und in der ich mich in Begleitung eines brillanten und loyalen Nasenaffen namens Sokrates von Ort zu Ort begeben sollte. Wir würden keinen Streit suchen, aber dem Streit würde es Woche für Woche gelingen, uns zu finden. «Die Augen, Sokrates, immer zwischen die Augen», schrie ich dann während einer unserer zahlreichen Kampfszenen.
    Vielleicht schlug mir in Santa Fe jemand einen schweren Krug über den Kopf und ich verlor das Gedächtnis. Irgendwo in Utah fand Sokrates vielleicht einen Ranzen mit wertvollen Münzen, oder er freundete sich mit einem Turbanträger an, aber gegen Ende jeder Folge sollte uns klarwerden, dass das wahre Glück oft dort lacht, wo man es am wenigsten erwartet. Es konnte sich in Form einer milden Brise oder einer Handvoll Erdnüsse offenbaren, aber wenn es kam, würden wir es mit der uns eigenen volkstümlichen Weisheit am Schopfe packen. Ich hatte es so geplant, dass die letzten Momente jeder Episode Sokrates und mich vor einem prunkvollen Sonnenuntergang stehend antreffen sollten, während ich so- wohl meinen Freund als auch die Zuschauer daheim an die Lektion erinnerte, die ich gelernt hatte. «Mir ist plötzlich klargeworden, dass es Dinge gibt, die wertvoller sind als Gold», mochte ich dann wohl sagen, wobei ich einen Falken beobachtete, der hoch oben über eine lila Bergzinne dahinglitt. Die Episoden mit Handlung zu versehen war nicht schwerer als das Besteck zu sortieren; schwierig war es, sich die hochwichtige Erleuchtung auszudenken. «Mir ist plötzlich klargeworden, dass …» Dass was? Mir wurde kaum je was klar. Gelegentlich wurde mir klar, dass ich ein Glas zerbrochen oder zu viel Spülmittel in die Maschine gefüllt hatte, aber die größeren Themen entzogen sich mir meist.
    Wie verschiedene andere Cafeterias in Raleigh stellte auch das Piccadilly oft ehemalige Strafgefangene ein, deren Jobs von Bewährungshelfern und ABM-Leuten vermittelt wurden. Während technischer Pausen stand ich oft in ihrem Teil der Küche herum und hoffte, dass sich mir, wenn ich diesen Verbrechern lausche, etwas Profundes enthüllt. «Mir ist plötzlich klargeworden, dass wir alle in jenem Gefängnis eingekerkert sind, welches als der menschliche Geist bekannt ist», ließ sich sinnend sagen, oder: «Mir ist plötzlich klargeworden, dass die Freiheit vielleicht die größte Gabe von allen war.» Ich hatte gehofft, diese Leute

Weitere Kostenlose Bücher