Nackt
wie Nüsse zu knacken, ihr Hirn zu durchstöbern und die Lektionen zu bergen, die sie gelernt hatten, angereichert um ein ganzes Leben voll Bedauern. Unglücklicherweise schienen die Männer und Frauen, mit denen ich zusammenarbeitete, nachdem sie den größten Teil ihres Lebens hinter Gittern verbracht hatten, nichts gelernt zu haben, außer wie man sich drückt.
Kessel kochten über, und Steaks verkohlten routinemäßig, während meine Arbeitskollegen sich in die Vorratskammer stahlen, um zu rauchen, Karten zu spielen oder es – manchmal – miteinander zu treiben. «Mir ist plötzlich klargeworden, dass die Menschen faul sind», sagte dann meine nachdenkliche Fernsehstimme. Das hatte kaum den ganz großen Nachrichtenwert, und als Schlusswort würde es sicher nicht die Herzen meines Fernsehpublikums erwärmen können –, welches, per Definition, ohnehin nicht das aktivste war. Nein, meine Botschaft musste optimistisch und erbaulich sein. Freude, dachte ich und knallte die schmutzigen Teller gegen den Rand des Mülleimers. Was bringt den Menschen Freude?
Als Weihnachten näher kam, halbierte sich meine wertvolle Zeit des Phantasierens. Das Einkaufszentrum wimmelte jetzt von hungrigen Kauflustigen, und alle drei Minuten hatte ich den stellvertretenden Geschäftsführer am Hals, der nach mehr Kaffeetassen und Beilagentellern schrie. Die Festtagskundschaft bildete eine laute und stetige Schlange, die am Wappen vorbei bis zur Rüstung am Eingang stand. Sie hatten sich lustige Nikoläuse an ihre Narrenhemden geheftet und schleppten übergroße Taschen, die vor elektrischem Werkzeug und Käsesortimenten überquollen, die sie für Freunde und Verwandte gekauft hatten. Der Anblick so vieler Menschen, Fremder, deren schiere Anzahl jenes Bedeutsame, das zu erfinden ich mich so bemühte, zerfraß, machte mich traurig und verzweifelt. Woher kamen sie und warum gingen sie nicht einfach wieder nach Hause? Ich schnappte mir ihre Tabletts vom Fließband, ohne mich ein einziges Mal zu fragen, wer diese Menschen waren und warum sie ihre panierten Koteletts nicht aufgegessen hatten. Sie bedeuteten mir nichts, und wenn ich sah, wie sie sich in der Schlange auf die Kasse zubewegten, wurde es offenbar, dass dies Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie würden sich nicht einmal an die Mahlzeit erinnern, geschweige denn an den Menschen, der sie mit blitzsauberen und siedend heißen Tellern versorgt hatte. Woran lag es, dass ich wichtig war und sie nicht? Es musste etwas geben, was uns voneinander trennte.
Ich hatte mich immer auf Weihnachten gefreut, doch jetzt kam mir meine Begeisterung schal und schofel vor. Wenn ich nach der Arbeit die Cafeteria verließ, sah ich sogar noch mehr Menschen, die aus den Läden und Restaurants schwärmten wie Bienen aus einem brennenden Bienenstock. Hier waren die jungen Paare mit ihren Zipfelmützen und die Familien, die sich beim Springbrunnen drängten, alle mit ihren Einkaufslisten und markierten GeldUmschlägen. Kein Wunder, dass die Chinesen sie nicht auseinanderhalten konnten. Sie waren Schafe, dumme Tiere, von der Natur darauf programmiert, sich zu paaren und zu grasen und ihre Wünsche dem fettleibigen pensionierten Schulleiter entgegenzublöken, der mit seinem Arsch auf dem erbärmlichen Nordpol des Einkaufszentrums saß.
Mein Widerwille wäre fast mit mir durchgegangen, bis ich in ihrem Verhalten eine Lösung für meine Identitätskrise erkannte. Sollten sie doch meterweise Geschenkpapier und grelle Strümpfe mit Monogramm haben: Wenn es ihnen etwas bedeutete, so wollte ich nichts damit zu tun haben. Dies Jahr sollte ich der Eine ohne Einkaufstaschen sein, der Eine, der Schwarz trug, aus Protest gegen ihr oberflächliches Kommerzdenken. Meine schiere Verweigerung würde mich von ihnen absetzen und diese Menschen dazu zwingen, sich selbst in sicherlich schmerzhafter Weise infrage zu stellen. «Wer sind wir?», würden sie fragen und den Zierrat vom Christ- baum klauben. «Was ist bloß aus uns geworden, und warum können wir nicht vielmehr so sein wie der düstre Bursche, der in der Piccadilly-Cafeteria Teller wäscht?»
Mein Boykott diente auch einem praktischen Zweck, da ich in diesem Jahr kaum mit Geschenken zu rechnen hatte. Um Geld zu sparen, hatte meine Familie beschlossen, etwas Neues auszuprobieren und Namen zu ziehen. Durch diese grausame Lotterie lag mein Schicksal in Lisas Händen, deren Vorstellung von einem anständigen Geschenk sich in sechs originalverpackten
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