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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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schnappte ihn mir und rannte und fragte mich, was wohl drin war und warum. Hinter mir hörte ich, wie der Kleinlaster von der Straße abbog, dann wurde die Tür geknallt, und jemand tobte durchs Dickicht. Er war es, hinter mir her. So viel bedeutete ich ihm und nun musste ich mich sogar noch heftiger anstrengen, um am Leben zu bleiben, denn dieser Mann, er war entschlossen. Ich dachte, vielleicht kletter ich auf einen Baum, aber das machte man, wenn man von Bären verfolgt wurde, stimmt’s? Vielleicht kletterten nur die kleinen Bären auf Bäume – die leichteren –, aber, wie dem auch sei, wie sollte ich mit Socken an den Händen klettern? Bei den größeren Bären musste man sich vielleicht hinlegen und totstellen, aber das hier war ein Mann, was hatte es also für einen Sinn, überhaupt an Bären zu denken? Er hatte eine Pistole und jetzt schoss er mir gleich in den Rücken oder vielleicht in den Kopf und Teile meines Schädels wurden auf dem Waldboden verstreut wie die Überbleibsel einer Melone. Ins Bein, vielleicht erwischt er mich da, oder in die Schulter, knallt mir den Arm am Ellbogen weg und ich kann mich glücklich schätzen, den Armstumpf zu massieren und Telefonnummern mit den Fingern der linken Hand zu wählen. Was ich brauchte, war eine Waffe. Andere Leute, Tramper, hatten mir gesagt, sie hätten immer irgendwas Kleines dabei, ein Messer oder eine Dose mit Reizgas und ich hatte gelacht, weil ich fand, dass es keine bessere Waffe gibt als den menschlichen Geist. Du Idiot. Ein Büchsenöffner. Vielleicht war ganz unten in meinem Rucksack ein Büchsenöffner, den ich an einem Stock festbinden konnte. Einen Speer bauen, das ist es, einen Speer! Ich hatte sie in den Andenkenläden gesehen, mit Federn und Perlenschnüren verziert. Die Indianer machten doch Speere, stimmt’s, oder nein, vielleicht dachte ich da an Tomahawks, sie machten Tomahawks, aber wie machten sie das? Brauchte man da nicht Tage oder sogar Wochen? Eine abgebrochene Flasche, eine Lanze, eine dieser stachligen Kanonenkugeln, die die Ritter an einer Kette herumwirbelten: Ich brauchte was für in die Hände, in die Arme. Ich brauchte meine Mutter; sie würde dem ein Ende machen. Lassen Sie meinen Sohn in Frieden! Wo war sie jetzt und was machte sie gerade? Es tut mir leid. Ich wollte, dass sie das wusste und formte das Wort immer wieder mit den Lippen. Leid, so leid. Ich sah hinter mich und fiel in ein Knäuel von Dornbüschen, dachte, ich sollte aufstehen und weiterlaufen, aber jetzt war er zu nah. Ich konnte ihn durch die Bäume sehen, als Silhouette gegen die Scheinwerfer. «Hey du, Dr. Kildare oder wer du bist, komm zurück.» Er sah nach rechts, dorthin, wo ich war und mir wurde klar, dass er mich nicht sehen konnte. «Ich tu dir nichts. Komm schon, komm zurück ins Auto. Ich hab doch nur Spaß gemacht. Das Ding ist nicht mal geladen, da, kuck.» Er betätigte den Abzug und die Pistole machte ein klägliches, klickendes Geräusch. «Ich hab nur ein bisschen Quatsch mit dir gemacht, verstehst du denn keinen Spaß?» Er kehrte langsam zu seinem Auto zurück und bückte sich, um sich durchs Unterholz zu wühlen. «Hey, Scheißkerl. Genau, ich sprech mit dir. Beweg deinen Arsch und komm zurück. Ich hab keinen Bock mehr.» Er steckte sich eine Zigarette an und pochte auf die Hupe und benahm sich, als wäre ich nur eben zum Urinieren ausgestiegen und hätte mich auf dem Rückweg verlaufen. «Willst du im Wald unter einem nassen Baumstamm pennen? Willst du das?» Er kurbelte das Fenster runter und fuhr langsam weiter, die Tür sperrangelweit offen und die Innenbeleuchtung an, und pfiff, wie nach einem verlorengegangenen Hund.
    Ich hatte Angst, das könnte ein Trick sein. Vielleicht hatte er seinen Kleinlaster weiter oben an der Straße geparkt und plante, mich zu überrumpeln, sobald ich losrannte. Was war, wenn er einmal im Kreis fuhr und dann von hinten auftauchte? Anderseits konnte er, während ich mich hier versteckte, seine Pistole laden oder die anderen Mitglieder seines Kults oder Aufgebots anrufen, die dann den Wald mit Knüppeln und einem Leinensack zur Aufbewahrung meiner Leiche absuchen kamen. Ich stand auf und duckte mich gleich wieder. Stand auf und duckte mich, immer wieder, bis ich, als hätte ich vorgepumpt, aus dem Wald schoss, den Abhang hinunter und mitten auf die Bundesautobahn, wo ich mit den Armen fuhrwerkte und bettelte, jemand möge anhalten. Die ersten beiden Autos verfehlten mich nur knapp, aber das dritte fuhr

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