Nackt
zu fahren.
Ich schuftete ein Jahr lang und verbesserte meine Noten in der Hoffnung, woandershin abzugehen, irgendwohin, egal wohin. Ich entschied mich schließlich für Kent State, weil dort Menschen umgebracht worden waren. Immerhin waren sie nicht an Langeweile gestorben und das hieß doch schon mal was. «Kent State!», sagte jeder. «Meinst du, da oben bist du sicher?»
Ich kam im folgenden September an und wurde einem Wohngebäudekomplex zugeteilt, der hauptsächlich körperbehinderten Studenten vorbehalten war. Ich hatte bei Menschen im Rollstuhl immer weggesehen, aber hier hatte ich keine Wahl; sie waren über- all. Es waren Menschen in meinem Alter, die in ein trügerisches seichtes Schwimmbecken gesprungen waren oder die Verteidiger der gegnerischen Mannschaft unterschätzt hatten. Sie waren nach dem Schülerball besoffen nach Hause gefahren oder vom Dach ihrer Eltern gerutscht, als sie die Regenrinne saubermachten; ein kleiner Fehler, der nie mehr rückgängig zu machen war. Die Paraplegiker oder Querschnittsgelähmten versammelten sich in der Eingangshalle und perfektionierten ihre Rollis, während die Quaddeln in ihren elektrischen Chaisen vorbeischnurrten und gegen den Rauch der Zigarette, die man ihnen kunstvoll zwischen die Lippen gesteckt hatte, die Augen zukniffen.
Im ersten Quartal teilte ich mir ein Zimmer mit Todd, einem liebenswürdigen Eingeborenen von Dayton, Ohio, dessen einzige Behinderung darin bestand, dass er rote Haare hatte. Die Quadriplegiker hatten die besten Drogen-Verbindungen, weshalb wir uns oft in deren Zimmern aufhielten. «Die Wasserpfeife ist drüben auf dem Regal», sagten sie, «gleich neben den Zäpfchen.» Allmählich gewöhnte ich mich an den Anblick des Kolostomiebeutels, in welchen die Dickdarmfistel eines Kommilitonen mündete, und ich begann, Kent State nicht als Efeu-, sondern als I.V.-Liga zu empfinden, als intravenöse Eliteschmiede. Der Staat zahlte einem die Miete, wenn man sich das Zimmer mit einem behinderten Studenten teilte, also zog ich im zweiten Quartal mit Dale zusammen, einem Studenten im zweiten Jahr, der Muskelschwund hatte und fünfundsiebzig Pfund wog. Ich lernte, Dale zu baden und aufs Klo zu setzen. Ich blätterte die Seiten seiner Bücher um, wählte seine Telefonnummern und hielt ihm, wenn er sprach, das richtige Ende des Hörers an den Mund. Ich zog ihn an und kämmte ihn und fütterte ihn und schnitt ihm die Fußnägel, aber ich kann nicht sagen, dass wir uns nähergekommen wären.
Als die Hälfte des Quartals um war, wurde Dale nach Hause geschickt, um bei seinen Eltern zu wohnen, und ich zog mit Peg zusammen, einem lustigen Mädchen mit einem degenerativen Nervenleiden. Peg wurde als «unvollständige Quadriplegikerin» bezeichnet und scherzte gern, sie kriege eben nie was fertig. Da hatten wir schon etwas gemeinsam. Sie war auf die Uni gekommen, um ihren Eltern zu entrinnen, die ihr nach 18:00 h keinerlei Getränke mehr zubilligten. Sie klagten, nach einem langen Arbeitstag seien sie einfach zu erschossen, um sie auch noch aufs Klo zu setzen. Gott habe sie für diese Krankheit auserwählt, und wenn ihr irgendwas nicht passe, solle sie sich an Ihn wenden. Es war eine gemeine Krankheit, die den Befallenen fortschreitend am Leben hinderte. Pegs Glieder waren verbogen und unzuverlässig und hatten ihren eigenen Kopf. Eine Tasse siedend heißer Kaffee, eine brennende Zigarette, Gabeln und Steakmesser …: Objekte sprangen ihr ohne Vorwarnung aus den Händen. Sie trug eine dicke Brille um den Kopf geschnallt, und an den verkrümmten, nutzlosen Füßen staken bekleckerte Babypantoffeln aus Schafsfell. Pegs Stimme war so undeutlich, dass die Leute bei der Auskunft und beim Pizza-Service auflegten, weil sie glaubten, sie wäre betrunken. Von ihrem Anblick enerviert, stimmten Pegs Professoren automatisch allem zu, was sie zu sagen hatte. «Gute Frage!», riefen sie. «Das war sehr einfühlsam. Kann jemand noch ein paar Gedanken zu dem beitragen, was sie gerade gesagt hat?» Sie mochte fragen, ob sie mal austreten darf, aber weil niemand sie verstand, gab es immer die gleiche Antwort. «Ein ganz wichtiger Punkt, findet ihr nicht?» In der Mensa begegnete man ihr verzweifelt zuvorkommend. Anstatt sich der Peinlichkeit auszusetzen, dass man vielleicht he-rausfindet, was sie als Hauptgericht will, türmte man ihr einfach von allem etwas aufs Tablett.
Ein Rollstuhlfahrer kommt sich oft unsichtbar vor. Schiebt man einen Rollstuhl, ist man ebenfalls
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