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Nackt

Nackt

Titel: Nackt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sedaris
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etwas dagegen, weil es mich der Pflicht entband, eigene Entscheidungen zu treffen. «Wir wollen nach Norden aufbrechen und uns unseren Brüdern und Schwestern in den Obstplantagen anschließen», sagte sie und richtete den Schal, den sie neuerdings um den Kopf trug. «Wanderarbeit, das ist das rechte Leben für uns.» Die guten Menschen dieses Landes brauchten uns, und wir sahen uns bereits in sonnenbesprenkelten Heuschobern ruhen und herzhafte Mahlzeiten einnehmen, bereitet von der in derbes Tuch gekleideten Bauersfrau.
    «Durch schwer arbeitende Menschen wie euch dreht sich die Welt», würde sie sagen. «Hier, nehmt noch ein Stück von meinem preisgekrönten Hühnchen; ihr Leut müssts bei Kräften bleiben.» Nach dem Mittagessen würde der freundliche Bauersmann seine Fiedel ergreifen und mit seiner mitreißenden Interpretation von «Truthahn im Stroh» oder «Polly Wolly Doodle» Staub aufwirbeln. Am späten Nachmittag wären wir dann wieder an der Arbeit und hoben Äpfel vom Boden auf und warfen sie in Kisten mit bezaubernden Etiketten wie «Kleine Rothaut» oder «Lehrers Liebling». Unser Leben würde einfach, aber unaussprechlich heroisch sein. Wie sie durch einen Steinbeck-Roman auf solche Ideen verfallen konnte, kann man nur raten, aber ich machte mit, denn wenn es schon sonst nichts brachte, so doch unter Garantie meinen Vater um den Verstand.
    Wir fuhren per Anhalter bis nach Oregon hinein und sprangen aus dem Auto, nachdem wir den schneebedeckten Mount Hood gesehen hatten, ein vollkommenes Symbol für das Majestätische, das bald unser Leben auszeichnen sollte. Der erste Farmer weigerte sich, uns anzustellen, weil wir keine Erfahrung hatten. Zwei und Drei lehnten uns aus demselben Grund ab. Den vierten, einen älteren kleinen Mann namens Hobbs, dem die Einwanderungsbehörde gerade seinen mexikanischen Pflückertrupp weggekarrt hatte, logen wir an.
    «Ich bin an einem Punkt, da würde ich jeden nehmen, solang er einigermaßen erfolgreich in der Nase bohren kann.» Er starrte die Bäume an, deren Äste sich unter der Last der Früchte bogen. «Erst dachte ich, meine Frau kann mir vielleicht helfen, aber die ist in dem Großen Haus und stirbt an Krebs. Was meinst du dazu, Ringo?»
    Wenn Hobbs’ Frau im Sterben lag, konnte es sein altertümlicher Beagle auch nicht mehr lange machen. Das Tier keuchte und stöhnte und benagte die kahlen Flecken, die an der Wurzel seines arthritischen Schwanzes schwärten. «Verdammt, Ringo», sagte Hobbs und warf seine glimmende Kippe ins nasse Gras, «bin nur froh, dass wenigstens du bei mir bist.»
    Es sollte keine Picknicks in Heuschobern geben. Kein derbes Tuch, kein Fiedelspiel. Hinter einer dicken Schicht permanenter Sturmwolken verborgen, sprenkelte die Sonne gar nichts. Im Gegensatz zu dem, was wir angenommen hatten, wurden Äpfel nicht vom Boden aufgesammelt, sondern von den Ästen schwer erreichbarer Bäume gepflückt, die von einer rachsüchtigen Borke geschützt wurden, welche dazu neigte, nach einem guten zwölf-stündigen Regen zu einem Gutteil aus Wasser zu bestehen. Wir sprechen hier von einer siebentägigen Arbeitswoche, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, bei Niesel- und bei strömendem Regen. Wenn sich durch Menschen wie uns die Erde drehte, so war dies ein gut gehütetes Geheimnis. Als Pflücker bezogen wir eine der sechs Hütten, die am Kiesweg eine Reihe bildeten. Es gab keinen Strom, und außer der Dusche in der Scheune spendete nur noch ein eisiger, rostverklebter Hahn Wasser. Gekocht wurde auf einem Holzofen, und wir schliefen auf Matratzen, die offenbar mit hochhackigen Schuhen gefüllt waren. Diese Härten konnten uns nicht umbringen, also machten sie uns stärker. Wir begannen Latzhosen zu tragen und bewunderten unser düsteres Abbild in den von Kerzen erhellten Fenstern, wenn wir uns über unser dampfendes Porridge beugten. Das musste genügen. Wir waren Pioniere. Menschen wie wir brauchten keine Kissen oder Handtuchhalter. Wir trugen unsere blauen Flecken wie einen Orden und jeder Bronchialkatarrh zeugte von unserer Stärke. Ich erwog bereits, mir eine Waschbärfellmütze zu besorgen, als die Erntezeit vorüber war und wir nach North Carolina zurückreisten, wo ich mich bald an ein Leben mit fließendem warmen Wasser und Elektrizität gewöhnte. Wir hatten geplant, nächstes Jahr wieder pflücken zu fahren, aber als es so weit war, musste Veronica leider zurücktreten. Sie hatte, wie es schien, einen Freund gefunden. Einen Freund. Das Wort

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