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Nacktes Land

Titel: Nacktes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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zuhörte.
    Hinter dem Felsen glitzerte im prallen Sonnenlicht ein Tümpel, der selbst während der Dürrezeit nie ganz austrocknete. Sonne, Tümpel, Felsen, Mann und Schatten, wobei letzterer den Mann bedeckte und über ihn hinausragte, waren durch ihre Positionen und ihre Beziehung zueinander von magischer Bedeutung. Der Teich nahm die Botschaft der Sonne, die alles sah, auf. Der Felsen trank Wissen aus dem Teich, doch zugleich behütete er den Zauberer vor den bösen Auswirkungen seiner eigenen Magie. Durch den Schatten verlieh er Macht und Schutz, und die lauschenden Ohren vernahmen auch jene Geheimnisse, welche der Staub verbarg.
    Willinja selbst saß mit gekreuzten Beinen auf der Erde, hatte das Gesicht dem Lager zugewendet, von wo die Männer auf ihn zukommen würden. Mit einem spitzen Stock hatte er die Totemzeichen des Stammes in den trockenen Staub geritzt: die große Schlange, den Büffel, das Krokodil und den Barramundifisch. Jedes Bild machte innerhalb der Umrisse des Tieres auch das Knochengerippe sichtbar, als hätte ein allsehendes Auge Fleisch und Muskeln abgezogen, um zum Kern des Wesens vorzudringen.
    Hinter den Zeichnungen war Willinjas magisches Instrumentarium ausgelegt: ein runder, mit Ocker bekritzelter Flußkiesel, eine längliche Klinge aus Ouarzstein, die an einem Ende spitz zulief und am anderen mit Harz und langen Strähnen aus Menschenhaar überzogen war, sowie ein kleiner Korb aus Rinde mit Menschenknochen.
    Der Zauberer war ein großer, starker Mann, aber schon so alt, daß seine Haut über den langen Schmucknarben auf Brust und Bauch Runzeln und Falten bildete. Sein großer Mund war voller gelber Zähne. Die breite flache Nase mündete in den buschigen Brauen, unter denen lebhafte Augen über die sonnendurchflutete Ebene blickten. Die grauen Haare und der Bart waren mit Ockerstaub bepudert, so daß die Augen wie Feuer aus der dunklen Gesichtshaut hervorleuchteten.
    Für Unkundige und Fremde war Willinja ein Niemand – ein Primitiver, der im Staub hockte und mit kindischen Kinkerlitzchen spielte. Für seine eigenen Stammesgenossen dagegen war er ein mächtiger Mann voll uralter Weisheiten; er war Gesandter des Geistervolkes, das ihn bei seiner Berufung getötet und zerstückelt und die Teile dann mit Hilfe magischer Substanzen wieder zu einem Ganzen zusammengesetzt hatte. Wenn böse Mächte das Leben einer Person oder des Stammes bedrohten, war er der einzige, der die Formeln zur Wiederherstellung von Ordnung und Wohlergehen kannte und auch anzuwenden vermochte. Er war kein Scharlatan. Er glaubte an sich. Die Geister hatten ihn zu dem gemacht, der er war, und ihre Macht wirkte durch ihn.
    Jetzt kamen die Männer vom Lager her auf ihn zu. Sie gingen in drei Gruppen; die erste trug Speere und Keulen, die Männer der zweiten hielten Stöcke und das lange, dunkeltönende Musikinstrument, das Didjeridoo, in den Händen. Dahinter folgten, unbewaffnet, zögernd und schamrot im Gesicht, die Männer des Büffeltotems, die Mundaru bei der Verfolgungsjagd begleitet hatten und zwei Stunden nach Sonnenaufgang ohne ihn zum Stamm zurückgekehrt waren.
    Bei der Befragung durch Willinja und die Ältesten hatten sie von der Tötung des Bullen berichtet, von der Verwundung des weißen Mannes und seiner Verfolgung durch Mundaru. Sie dachten nicht daran, zu lügen. Sie wußten, daß Willinja mit Geisteraugen die Wahrheit sah. Deswegen hatten sie Angst vor ihm. Aber andererseits kannten sie seine Eifersucht auf Mundaru und hofften, daß diese sich zu ihren Gunsten auswirken würde.
    Während Willinja sie mit zusammengekniffenen Augen betrachtete, fühlte er die Kraft in sich wachsen und sammelte sich für die heilige Handlung, die nun folgen sollte.
    Die ersten Gruppen kamen heran und stellten sich so auf, daß sie sich in zwei Reihen rechts und links von Willinja gegenüberstanden, die Musikanten auf der einen, die Speerträger auf der anderen Seite. Als die Männer des Büffels anlangten, setzten sie sich in einer Reihe Willinja so gegenüber, daß zwischen ihnen allen ein freies Quadrat auf dem geweihten Grund entstand. Frauen und Kinder waren nicht dabei. Sie waren zum Nahrungsammeln in die entgegengesetzte Richtung gegangen; denn ein Blick auf die Vorgänge am geheimen Ort bedeutete für sie einen schrecklichen und plötzlichen Tod.
    Die Männer hatten sich jetzt alle gesetzt und warteten. Willinja schloß die Augen und saß stocksteif im schützenden Schatten. Er spürte, wie all seine Lebenskraft

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