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Nacktes Land

Titel: Nacktes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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nach oben gesaugt wurde und sich in seinem Schädel sammelte. Eine Weile verging, bis er anfing, mit Geisterstimme zu ihnen zu sprechen. Was er sagte, klang nicht wie eine gewöhnliche Ansprache, sondern eher wie ein Gesang.
    »Es gibt Erde, und es gibt Wasser. Der Wind weht über die Erde, doch er erschüttert sie nicht. Das Blatt treibt auf dem Fluß, doch es verletzt ihn nicht. Wir sind der Fluß und die Erde. Der weiße Mann ist das Blatt und der Wind …«
    Die Männer des Büffels saßen regungslos still, doch die Speerträger und Musikanten stießen ein langgezogenes Geheul der Zustimmung aus …
    »Ai-eee-ah!«
    »Wir haben in Frieden gelebt. Wir haben mit vollen Bäuchen ruhig geschlafen. Unsere geheimen Plätze sind unberührt, denn der weiße Mann und sein Volk gehen vorüber wie der Wind und das verwehte Blatt.«
    Seine Stimme schwoll zu einem hohen Wehklagen an.
    »Bis jetzt …! Bis Mundaru und seine Freunde den Zorn der Geister erweckten – und so ist der Wind jetzt zu einer wütenden Stimme geworden, und aus dem Blatt wächst ein Baum, und der Baum wird zur Keule und zum Speer, um uns zu vernichten.«
    »Ai – eee!« riefen die Speerträger. Und die Musikanten schrien lauter »Ai – ee – ah!«.
    Willinja beugte sich vor und deutete auf die Büffelzeichnung im Staub.
    »Dies ist Anaburu, der Büffel, das Zeichen Mundarus. Diesen darf er töten und essen, und niemand würde es ihm verwehren. Aber das hier …«
    Eilig zeichnete er einen neuen Umriß in den Sand, den großen Bullen Brahman.
    »Das hier ist nicht Anaburu. Dies ist etwas anderes, das ist das Tier eines weißen Mannes. Es hat in sich kein Leben für Mundaru. Doch er tötet es – und jetzt versucht er, den weißen Mann zu töten. Wenn er das tut, trifft der Tod uns alle. Die anderen weißen Männer werden kommen und uns in ein fremdes Land bringen, wo unsere Geister uns vergessen und wir verkümmern und sterben werden. Dann werden wir der Wind sein. Wir werden das Blatt sein, das verloren und ziellos dahintreibt. Wohin sollen wir dann unsere Toten bringen? Wer wird den Frieden auf sie herabsingen? So etwas ist schon früher geschehen. Nun kann es auch mit uns geschehen, den Männern des Gimbi.«
    Er schwieg. Schuldbewußt saßen die Männer des Büffels da; doch diesmal ertönte von den anderen kein Antwortgesang. Sie hielten sich aufrecht und still, voller Angst angesichts des drohenden Schicksals – der Verbannung von der Erde, die ihre einzige Quelle des Lebens und der Stammesverbundenheit war.
    Willinja beobachtete sie und wußte, daß er sie in der Hand hatte. Er wartete ab und überließ sie noch ein wenig ihrer Angst. Dann senkte er seine Stimme zu einem tiefen, leisen Flüstern.
    »Ich habe mit den Geistern gesprochen. Ihre Stimmen haben mir geantwortet. Sie sagten, daß es für uns noch Hoffnung gibt, wenn der uns bedrohende Tod auf Mundarus Körper herabgesungen wird!«
    Mit einem langen, hörbaren Aufatmen wich die Furcht sogleich von ihnen. Es kam zu keinem Protest, nur Erleichterung war zu spüren. Der Name des Opfers war gefallen. Dieses Sühneopfer würde dem Land und dem Stamm Frieden und Sicherheit erhalten.
    Willinja, der Zauberer, erhob sich. Aus der Reihe von Gegenständen vor sich nahm er den Stein mit der Ockerzeichnung und legte ihn in die Mitte des Quadrats, wo alle ihn sehen konnten. Sie wußten, was er bedeutete – es war das Symbol eines Mannes, der Mundaru hieß. Was auf den Stein gesungen wurde, das würde auf den Mann gesungen. Er konnte ihm nicht entfliehen, ebensowenig wie der Stein über den Staub davonlaufen konnte.
    Willinja ging zu seinem Platz zurück, ließ sich auf ein Knie nieder und hob die lange Quarzklinge mit dem Harzgriff und den wehenden Haaren auf. Dann streckte er ruckartig den Arm aus und wies auf den Stein mit Mundarus Namen. Gespannt und schweigend sahen die anderen zu. Die Klinge war ein Geisterspeer, der auf das Opfer zielte. Das Harz würde seine Eingeweide verbrennen. Die Haare würden die Waffe geradewegs und sicher zu ihrem Ziel tragen.
    Dann setzte urplötzlich der Gesang ein, ein tiefes, akzentuiertes Skandieren; dumpf schlugen die Stöcke den Rhythmus dazu, und das Didjeridoo trommelte kontrapunktisch zur Melodie. Jede Zeile war ein Todeswunsch gegen den Mann-Stein im Staub.
    »Möge der Speer ihn mitten ins Herz treffen …«
    »Möge das Feuer seine Eingeweide verbrennen …«
    »Möge die große Schlange seine Leber fressen …«
    Immer weiter ging es, ein

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