Nacktes Land
liefen sie los; leicht, im Rhythmus des Windes, teilten sie die Gräser, ohne ein Blatt oder einen Halm zu verletzen. Aus der Ferne ertönten deutlich vernehmbar abermals Rufe, doch diesmal in einer neuen Tonart, schneidend und dringend: »Billy-Jo! Hierher! Schnell, beeil dich!«
Lance Dillon vernahm all diese Stimmen nur undeutlich durch den Schleier seines Fiebers. Für ihn bedeuteten sie nichts weiter als neue gestaltlose Alpträume, gegen welche der ermattete Mechanismus seines Geistes sich ständig wehren mußte, während er wie ein Reptil schwerfällig über die Graswurzeln kroch.
In den endlosen letzten Stunden hatte er viel gelernt: daß Zeit relativ ist; daß der Schmerz einen Höhepunkt erreicht, dem Empfindungslosigkeit folgt; daß kranke Menschen Visionen haben, daß der Verstand sich über einen messerrückenschmalen Pfad bewegt, auf dessen beiden Seiten abgrundtiefe Finsternis und schreiender Wahnsinn lauern, daß ein Mensch, einmal in den finsteren Abgrund gestürzt, nur noch blindlings auf ein Ziel zustrebt, das einst deutlich vor ihm lag, aber jetzt wie ein Leuchtfeuer im Sturm längst erloschen ist. Blinder Wille war es, der das müde Herz in Gang hielt und das kranke Blut durch den Kreislauf der Arterien, Venen und Haargefäße pumpte. Der Wille war es auch, der die Hände abwechselnd vorwärts greifen ließ, um den Körper wie eine gedunsene Fleischmasse hinter sich herzuziehen. Der Wille hielt die verquollenen, eiterverklebten Augen offen; er erstickte das gequälte Stöhnen vor Sonnenbrand und Insektengift; er verscheuchte die Alpträume und brachte jene verführerischen Stimmen zum Schweigen, die ihm befahlen, sich hinzulegen und zu schlafen, aufzustehen und den Speeren zu trotzen und um Mitleid zu wimmern in dieser mitleidlosen Welt.
Doch es gab auch eine Grenze für das, was der Wille vermochte. Nach und nach erschlafften die Werkzeuge, über die er verfügte … Fleisch, Muskeln, Blut und die Kraft in den Knochen. Eins nach dem anderen würde die Arbeit einstellen, bis das innerste Triebwerk versagte und zum Stillstand kam.
Lance Dillon war nicht mehr bei Sinnen, doch eines wußte er mit Bestimmtheit: er mußte in Bewegung bleiben. Alles andere war Illusion – Irrlichter, die ihn ins Verderben lockten. Deshalb ignorierte er die Stimmen, die seinen Namen riefen, und schleppte sich weiter. Doch da er halb blind war, merkte er nicht, daß er sich bei der Feststellung des Sonnenstandes geirrt hatte und sich mit jeder Bewegung mehr vom Fluß und von seinen Rettern entfernte.
Die Dunkelheit brach mit einem Schlag herein, und Mary Dillon häufte mehr Holz aufs Feuer, so daß die züngelnden Flammen eine kleine Lichtinsel auf dem Sand bildeten. Sie konnte nicht zu kochen anfangen, ehe das brennende Holz nicht zu Kohle verglüht war; doch sie brauchte Wärme und Helligkeit, um die Schrecken der Nacht abzuwehren. Schon länger hatte sie keine Rufe mehr gehört, überhaupt keinen einzigen menschlichen Laut – nichts als das leise Plätschern des Wassers, das allmählich ersterbende Zwitschern der schläfrigen Vögel, den schwerfälligen Aufsprung eines Zwergkänguruhs und das Flattern der Fledermäuse, die sich aus den Schatten auf das sternengesprenkelte Wasser stürzten.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so einsam gefühlt. Am liebsten hätte sie mit aller Kraft nach Adams und Billy-Jo gerufen, doch die Angst vor einem spottenden Echo aus der Wildnis hielt sie zurück. Bilder aus Erzählungen der alten Buschmänner formten sich ihr zu Schreckgespenstern, die außerhalb des Feuerscheins lauerten: der kläffende Monsterkauz, der in dunklen Teichen hauste, der kopflose Viehtreiber von Stone Country, das Totemkrokodil, welches mit einer Haarnadel in seinen Zähnen stocherte und zu jedem Geburtstag eine weiße Frau verzehrte, der irre Herzog von Kilparinga, Erbe eines englischen Adelstitels, der mit einem Beil Amok lief, weil er sich bei einem eingeborenen Mädchen den Aussatz geholt hatte. Früher hatte sie sich über diese verrückten Geschichten der einfachen Männer in den Kneipen des Buschgebietes amüsiert, aber hier unten am Fluß nahmen sie plötzlich eine beängstigend realistische Gestalt an.
Um sich abzulenken, schnürte sie die Packsäcke auf und legte Lebensmittel und Eßgeschirr zurecht. Die Blechteller glitten ihr scheppernd aus der Hand. Die aufgeschreckten Pferde wieherten, und aus den Blättern über ihrem Kopf entfloh ein Vogel kreischend in die Nacht. Sie warf sich in
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