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Nacktes Land

Titel: Nacktes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: West Morris L.
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Rolle, wenn dabei die allgemeine Ordnung nicht gestört und der Gatte vor Demütigungen bewahrt wurde. Ein Mädchen in diesem Alter war wahrscheinlich mit einem alten Mann verheiratet. Sie konnte damit rechnen, daß früher oder später ein junger Mann kommen und sie entweder heimlich verführen oder entführen und die entsprechende Strafe zahlen würde. In jedwedem Fall geschah das nur unter der Voraussetzung, daß das Mädchen einverstanden war. Die meisten Eingeborenen prahlten mit ihrer Männlichkeit und behaupteten, daß ihre Frauen unersättlich seien. Vergewaltigung innerhalb eines Stammes war ein ungewöhnliches Verbrechen, weil es für eine solche Tat einfach keinen Anlaß gab.
    Aber er entdeckte noch andere Ungereimtheiten. Als Territoriumspolizist kannte Adams sich ein wenig in Gerichtsmedizin aus und wußte einiges über die sexuellen Gewohnheiten der Primitiven. Er hatte schon mehr als einen Fall sadistischer Verstümmelung erlebt. Aber auf das Mädchen hier im Sand traf auch das nicht zu. Sie hatte mit dem Angreifer gekämpft und war durch Schläge zur Unterwerfung gezwungen worden. Wieder stellte er sich die Frage: warum? Sie war allein gewesen. Sie brauchte weder Ruf noch Ehre zu verteidigen. Sie mußte den Mann gekannt haben. Warum hatte sie lieber Gewalt und Tod in Kauf genommen, als ihm zu Willen zu sein?
    Ein neuer Gedanke nahm erst zögernd, dann immer deutlicher Gestalt an. Entschlossen stand Adams auf, ging zu Mary hinüber und sah ihr zu, wie sie das Gesicht des Mädchens mit einem feuchten Handtuch wusch, während Billy-Jo, auf den Fersen hockend, fortwährend ins Leere starrte.
    Nach einer Weile ergriff ein Schüttelfrost das Mädchen, seine Augenlider flatterten, und sein Kopf rollte ständig hin und her. Ein unverständliches Lallen kam von den geschwollenen Lippen. Adams nahm Mary das Handtuch weg und reichte es Billy-Jo.
    »Mach du weiter. Wenn sie zu sich kommt, sprich mit ihr.«
    Der dunkelhäutige Mann nickte und redete in dem sanften Singsang seiner Stammessprache auf sie ein. Adams nahm Mary bei der Hand und führte sie aus dem Feuerschein heraus an den Rand des Wassers. Sie sah ihn fragend an: »Warum haben Sie das gemacht?«
    »Aus reiner Taktik, Mary. Wenn sie aufwachen und Sie erblicken würde, bekäme sie Angst. Sie würde wahrscheinlich kein Wort sagen. Außerdem spricht Billy-Jo ihre Sprache. Er ist der einzige, der mit dem Mädchen umgehen kann.«
    »Sie verstehen wirklich was von Ihrem Job, Neil!«
    Ihre Stimme war voller Bewunderung.
    »Ich kenne das Land, Mary. Ich mag meinen Job … die meiste Zeit jedenfalls.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    Er hob beschwichtigend die Hände.
    »Nichts Wichtiges. Nur, daß die Arbeit einfacher ist, wenn keine persönlichen Interessen mit hineinspielen.«
    Sie wandte sich ihm zu und blickte ihn scharf an, doch er starrte in den dunklen Fluß.
    »Und jetzt spielen persönliche Interessen mit?«
    »In gewisser Weise – ja.«
    »Wollen Sie nicht darüber reden, Neil?«
    »Nein. Jedenfalls nicht jetzt.«
    Wie auf einen geheimen Befehl hin wandten sie sich zur Seite und wanderten am Ufer entlang, während die Stimmen hinter ihnen leise murmelten. Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, schienen sie sich einig, ihre Gedanken und Gefühle schwangen im Gleichklang ihrer Schritte. Sie schwiegen und sprachen miteinander, beides voller Harmonie, und eine unausgesprochene Vertrautheit verband beide miteinander.
    »Neil?«
    »Ja, Mary?«
    »Das junge Mädchen da … was mit ihr passiert ist … wie können Menschen – gerade primitive Menschen – so brutal sein?«
    »Aber, Mary, das sind sie doch gar nicht. Sie leben anders als wir, aber sie sind nicht brutal. Sie lieben ihre Kinder. Sie lieben ihre Frauen. Sie sind zärtlich zu ihnen, auch wenn sie unsere Art zu küssen nicht kennen. Wenn Sie nur einmal durch eines ihrer Lager gehen, können Sie sehen, wie rührend ein Mann seine kranke Frau pflegt, ihr das Haar streichelt, ihr mit einem Blatt zufächelt, ihr etwas vorsingt. Und derselbe Mann hat vielleicht während eines langen Trecks, als das Wasser knapp war, ihr neugeborenes Kind getötet. Diese beiden Haltungen lassen sich durchaus miteinander vereinen. Sie gehören einfach in verschiedene Kategorien. Zu überleben steht an erster Stelle, und zwar muß die Gruppe überleben. Ein Säugling könnte die Mutter zu sehr schwächen, so daß sie zurückbliebe und ihre Pflicht als Mitglied des Trecks nicht mehr erfüllen könnte. Der

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