Nadel, Faden, Hackebeil
Es mochte eiskalt klingen, aber damals hatte man wirklich gedacht, die Mutter hätte nur noch ein, zwei Jahre, und die würde Irmgard doch auf einer Backe absitzen können. Schließlich ging es um ihre Mutter. Aber es wurden fast zwanzig Jahre daraus. Und irgendwann wurde auch der Vater zum Pflegefall, und Irmgard pflegte selbstverständlich auch ihn bis zu seinem Tod. Sie hatte nie wirklich geklagt. Es gab ja auch so viel zu tun, keine Zeit für Jammerorgien. Aber jetzt, da die Eltern tot waren und Siggi nach seiner schweren Schussverletzung wieder auf den Beinen war, schien ihr Leben plötzlich inhaltslos.
Sie war versorgt, die Brüder hatten als Ausgleich für die aufopfernde Pflege, die sie den Eltern über Jahrzehnte angedeihen ließ, auf ihren Anteil am Erbe verzichtet, und so besaß Irmgard jetzt zwei Stadthäuser mit erklecklichen Mieteinnahmen. Sie war auch nicht untätig. Schon immer hatte sie sich ehrenamtlich betätigt, vor allem in der evangelischen Kirchengemeinde, und nach dem Tod des Vaters mehr denn je. Aber es ließ sich nicht leugnen: Jetzt, mit 62 , fehlte Irmgard ein Partner an ihrer Seite. Und zwar sehr! Dass es möglich war, auch in diesem Alter noch die Liebe zu finden, sah sie ja an ihrem Bruder Siggi und seiner MaC.
Nun war es allerdings schlechterdings unmöglich, als reife Frau in Schwäbisch Hall einen Partner zu finden. Alle halbwegs annehmbaren Männer waren natürlich längst verheiratet. Den Rest wollte man weiß Gott nicht haben, so verzweifelt konnte man gar nicht sein. Was blieb da noch? Die Online-Singlebörse. Irmgard hatte sich für den Dienst entschieden, der »Singles mit Niveau« anbot, »die zu Ihrem Anspruch passen«. Und Irmgard hatte durchaus Ansprüche. Sie wollte jemand Kultiviertes, Seriöses.
Irmgard lauschte. Stille hatte sich über die Stadt und über das Haus gesenkt.
Sie holte tief Luft und klickte »Jetzt Partnersuche starten« an.
Während Onis schnorchelnd schnarchte, füllte Irmgard diverse Rubriken aus – welche Uni sie besucht hatte, wo sie am liebsten wohnte oder urlaubte, wie sie ihre Figur beschreiben würde, was das Besondere an ihr sei. Das war alles nicht weiter schwer.
Dann sollte sie angeben, was ihrer Meinung nach für eine langfristige Beziehung wirklich wichtig war. Sie durfte drei bis vier Präferenzen ankreuzen. Irmgard entschied sich für Toleranz, Treue und gemeinsame Wellenlänge. Sie klickte zudem an, dass ihr die äußere Attraktivität ihres Partners »sehr wichtig« war und sie sich selbst für »attraktiv« hielt. Nur keine Abstriche machen, die Latte hoch ansetzen! (Die Alternative zu »attraktiv« war »sympathisch« – na toll.)
Die Fragen zu ihrer Persönlichkeit nahm sie sehr ernst. Sie ließ sich Zeit. Überlegte. Wog ab. Doch endlich war es so weit – der letzte Klick. Und …
… 7759 Partnervorschläge wurden angezeigt.
Irmgard war enttäuscht. Von der Art von Mann, die ihr vorschwebte, konnte es allenfalls eine Handvoll geben. Sie stellte fest, dass es die verfügbaren Männer des Online-Dienstes in ihrer Gesamtheit waren, in absteigender Reihenfolge. Die mit den meisten Übereinstimmungen zu ihren Profilangaben wurden als Erste aufgeführt.
Irmgard holte tief Luft, griff zu ihrer Meissner-Porzellan-Tasse und leerte den Eisenkrauttee in einem Zug.
Der Dritte von oben. Arzt aus Zürich. Den Satz »Das Besondere an mir ist …« hatte er mit den Worten »dass man mich nicht beschreiben kann, man muss mich erleben« ergänzt. 98 Matchingpunkte. Allerdings war er schon 70 . Irmgard gestand es sich nicht einmal selbst ein, aber sie wünschte sich tief im Herzen einen Mann, der ihr auch noch Zärtlichkeit und Nähe bieten konnte. Und das ohne Zuhilfenahme von chemischen Härtungsmittelchen.
Vielleicht war der etwas: Master of Health hatte er als Beruf angegeben. Nur 94 Matchingpunkte, aber mit 55 noch im besten Mannesalter. Allerdings aus Kiel. Irmgard hatte nicht wirklich vor, Schwäbisch Hall zu verlassen. Hier war sie doch zu Hause. Wenn schon eine Fernbeziehung, dann zu jemand, den man mit dem Zug in wenigen Stunden erreichen konnte, ohne für die einfache Fahrt gleich einen ganzen Tag ansetzen zu müssen.
Oder der hier? Elite-Coach im Segelsport. 51 Jahre. Villa am Starnberger See. Irmgard, die Gäule gehen mit dir durch, schalt sie sich. 51 war viel zu jung. Sie musste ehrlich zu sich selbst sein. Mit ihrem eisengrauen Zopf und den im Laufe ihres Lebens leicht verhärmten Gesichtszügen konnte sie keinen
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