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Nadel, Faden, Hackebeil

Nadel, Faden, Hackebeil

Titel: Nadel, Faden, Hackebeil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Kruse
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Otto?«
    Sie kraulte dem Kamerunbock den Ziegenbart. Otto gab wohlige Ziegenbocklaute von sich.
    Tayfun wünschte sich, jetzt mit dem Tier tauschen zu können. Allerdings hatte er keinen Kinnbart. Bei ihm wuchs im Gesicht einfach nichts. Höchst peinlich für einen Abkömmling einstiger Elitekrieger aus dem Osmanischen Reich.
    El Presidente klatschte in die Hände. »Okay, los geht’s! Lasst uns Seelen fangen!«
    Das Wort fangen hatte etwas Prophetisches, aber das wusste El Presidente in diesem Augenblick noch nicht.
    Aus dem Polizeibericht
    Ziegenbockalarm
    Ein Ziegenbock namens Otto hat am Samstag den Mittelaltermarkt aufgemischt. Nachdem er seiner Betreuungsperson entwischt war, unternahm der unternehmungslustige Kamerunbock einen ausgedehnten Stadtbummel. Auch Polizei und Feuerwehr konnten ihn nicht einfangen. Bei dem Versuch, des Bockes habhaft zu werden, wurde ein Beamter von dem Tier kraftvoll ins Gesäß gebissen. Erst als die Besitzerin mit einer Zibbe kam, konnte der Bock dem Charme der Ziegendame nicht widerstehen und folgte dieser brav auf einen Anhänger. Da der Bock auf seinem fröhlichen Lauf durch die Stadt das Warenregal eines Keramikstandes rammte, entstand ein Schaden von ca. 500  Euro. Der gebissene Beamte sieht von einer Anzeige ab.

21 : 35  Uhr
    Lieber spät und falsch als nie und richtig
     
    Die Frau war nicht mehr die Jüngste, wirkte für ihr Alter aber noch gut konserviert. Mittlerweile sah ja keine Frau mehr so alt aus, wie sie war. Diese Zeiten waren vorbei. Dennoch, anhand von Kleinigkeiten – Ringe um den Hals, erste Altersflecken an den Händen – konnte man erahnen, wie viele Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte stehen müssten. Mehr, als auf eine Torte passten … Doch ihr Lächeln machte sie hübsch. Und der zartrosa Flauschpulli schmeichelte ihrem Teint.
    Sie lehnte sich nach hinten, an seine Schulter, sah zu ihm auf. Ihr strahlte das Glück aus allen Poren, vor allem aber aus den Augen.
    Er wirkte jünger, nicht viel, aber doch jünger. Sah auf rauhe Weise gut aus. Sein Dreitagebart schon grau durchsetzt, ebenso wie seine wuscheligen Haare, was ihn aber irgendwie sehr sexy machte. Lachfältchen umspielten seine Augen.
    Ein Paar wie aus einem Bilderbuch der Liebe.
    Irmgard Seifferheld seufzte auf.
    Die beiden attraktiven Senioren warben für die größte TÜV -geprüfte Online-Singlebörse im deutschsprachigen Raum. Bestimmt gedungene Models, aber egal. Genau so stellte sich Irmgard Seifferheld
ihr
Glück vor, auch wenn sie mit ihrem eisengrauen Zopf älter aussah, als sie war.
    Mutig fuhr sie mit der Maus zum nächsten Kästchen und klickte »Ich bin eine Frau« an.
    Irmgard Seifferheld, 62 , berufslose, ältere Schwester eines invaliden Ex-Kommissars und eines wegen einer Frau zum Katholizismus konvertierten Juweliers, konnte nicht glauben, wie schnell das Leben an ihr vorbeigeflitzt war. Eben hatte sie noch – mit Palästinensertuch um den Hals und einem T-Shirt mit der Aufschrift
Make Love, Not War
 – auf dem Haalplatz vor dem Mädchengymnasium gegen die Stationierung von Pershing- II -Raketen in Deutschland demonstriert, und jetzt saß sie hier, in dem Zimmer ihres Elternhauses, in dem sie ihr ganzes verdammtes Leben zugebracht hatte, und war alt und allein. Nun ja, nicht ganz allein: Sie lebte zusammen mit ihrem Bruder und ihren beiden Nichten und dem Hund ihres Bruders Siggi, dem Nichte Karina beigebracht hatte, Türklinken mit den Pfoten zu öffnen, was zur Verkratzung sämtlicher Türen des Hauses geführt hatte, aber auch dazu, dass Onis in diesem Moment friedlich schnaufend und Zufriedenheitsgefühle verbreitend auf ihren Füßen lag, obwohl sie ihn nicht eingelassen hatte. Nein, nicht
zu
ihren Füßen, sondern
auf
ihren Füßen. Er hatte offenbar gespürt, wie sich ihr Herz vor Einsamkeit verkrampfte, war unaufgefordert hereingekommen, hatte ihr das Knie geleckt und sich dann auf ihre Füße gelegt. Onis war ein ausgewachsener Hovawart und somit groß und schwer, aber Irmgard ließ ihn gewähren. Irgendwie war es enorm tröstlich, wenn einem ein Hund ganz allmählich die Blutzufuhr in die Zehen abquetschte.
    Mühsam tippte sie ihre E-Mail-Adresse ein. Die hatte sie sich erst vor zwei Tagen zugelegt. Das Internet war im Grunde nicht ihre Welt. Aber was blieb ihr übrig?
    Nach dem Abitur hatte Irmgard studiert. Ägyptologie. In Heidelberg. Ihre schönsten Jahre. Doch dann war ihre Mutter erkrankt. War ja klar, dass sie als einzige Tochter sich um sie kümmerte.

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