Nadel, Faden, Hackebeil
zu Irmis Zimmer auf. Irmi wäre vor Schreck beinahe vom Schreibtischstuhl gerutscht.
»Kind, ich muss doch sehr bitten! Immer erst anklopfen!«
Hoffnungslos. Bei ihrer Nichte Karina siegte die Neugier jedes Mal über die gute Erziehung. Wenn man erst anklopfte, sah man ja nicht, was die Tante zu verbergen hatte. Es musste irgendetwas mit dem Computer zu tun haben. Wozu sonst brauchte die Tante ihren alten Laptop? Warum saß sie neuerdings immer hinter geschlossener Tür in ihrem Zimmer? Das hatte sie früher nie getan, denn auf diese Weise bekam sie ja nicht mit, was im Haus vor sich ging. Nein, irgendwas war da faul. Sonst würde Tante Irmi auch nicht jedes Mal so schuldbewusst reagieren.
»Du hast Besuch, Tantchen. Steht im Flur.« Karina knöpfte ihren Mantel auf und beugte sich zur Seite, um an ihrer Tante vorbei auf den Computer zu schauen.
»Ich habe die Türglocke gar nicht gehört«, sagte ihre Tante und beugte sich ebenfalls zur Seite, damit Karina keinen Blick auf den Bildschirm erhaschen konnte.
»Hat sich vor der Haustür an mich herangeschlichen, als ich von der FH kam.«
»Es war nicht meine Absicht, mich anzuschleichen. Ich habe mich extra geräuspert«, rief eine Männerstimme aus dem Flur. »Der … äh … Hund beißt doch nicht, oder?«
Man hörte Schnüffellaute von Onis, den Seifferheld zu Hause gelassen hatte.
»Der Hund will nur an Ihnen riechen«, meinte Karina beruhigend über ihre Schulter. »Soll ich den Herrn Pfarrer in die gute Stube führen?«
»Ja, tu das bitte. Und biete ihm doch etwas zu trinken an, Karina.« Ihre Tante rührte sich nicht. Höchst verdächtig!
Karina wusste, wann sie sich geschlagen geben musste. »Mir nach«, sagte sie zu Pfarrer Hölderlein, der wie Lots Weib zur Salzsäule erstarrt im Flur stand, weil er als Kind von einem räudigen Schäferhund dumm von der Seite angeguckt worden war und seither unter einer Hundephobie litt.
Irmgard schaltete den Computer aus, holte mehrmals tief Luft, dann trat sie aus ihrem Zimmer.
Pfarrer Hölderlein hatte es nicht bis in die gute Stube geschafft. Er stand zitternd neben der Tür, weil Onis ihm unterwegs seinen Schädel in den Schritt gerammt hatte. Das war nichts Persönliches, das tat Onis bei jedem, den er gut riechen konnte, aber das konnte der Herr Pfarrer ja nicht wissen.
»Aus, Onis. Hierher.«
Widerstrebend zog Onis seinen Kopf zwischen den Männerbeinen hervor und lief zu Irmgard. Die schob ihn ins Zimmer ihres Bruders, wo sich der Hund sofort auf den rosa Teddy auf dem Bettvorleger stürzte, und schloss die Tür.
Pfarrer Hölderlein holte erleichtert Luft. Er wirkte unwohl. Sein Anzug sah aus, als sei er einmal durch den Kocher gezogen und dann klatschnass über die hagere Männergestalt gestülpt worden. Die schütteren Haare standen wirr vom Kopf.
»Ihre Nichte ist nach oben gegangen, um ihre Sachen abzulegen«, sagte er. »Und bitte machen Sie sich meinetwegen keine Umstände«, bat er, als Irmgard ihn ins Wohnzimmer geführt und ihm Kaffee angeboten hatte. Sie setzten sich in geziemendem Abstand auf das Biedermeiersofa.
»Ich habe es eben erfahren«, sagte Pfarrer Hölderlein etwas atemlos und mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns in den Augen, den er auch immer bei Trauergottesdiensten aufsetzte.
O weh, dachte Irmi, die alte Frau Sondergaard ist also gestorben. So eine nette Person. Aber man hatte ja schon seit Monaten damit gerechnet. Und 98 ½ war ein gutes Alter, um abzutreten: alt und lebenssatt, und der Lack war ohnehin ab. »Frau Sondergaard ist also tot«, sagte sie mitfühlend.
Pfarrer Hölderlein schreckte zusammen. »Tot? Frau Sondergaard? O Gott, das wusste ich noch gar nicht.«
Irmi stutzte. »Sind Sie nicht deswegen gekommen?«
Sie sahen sich kurz an.
»Grundgütiger, nein.« Pfarrer Hölderlein tupfte sich mit dem Handrücken die Stirn ab. »Viel schlimmer.«
Aus dem ersten Stock hörte man laute Stimmen, ohne genau zu verstehen, was gesagt wurde. »Meine Nichte Karina und ihr Freund. Offenbar eine kleine Auseinandersetzung unter Liebenden«, meinte Irmgard entschuldigend. Sie erzählte ihm nicht, dass Karina und Fela derzeit im Seifferheldschen Haus in Sünde zusammenlebten, bis Felas Eltern zurückkamen und er nicht länger der Hüter seines kleinen Bruders sein musste, den er hier bei Seifferhelds besser hüten konnte, weil immer jemand im Haus war, der ihn vertreten konnte, wenn er als Bereitschaftsfotograf für das
Haller Tagblatt
überraschend Milchlasterunfälle oder
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