Nadel, Faden, Hackebeil
Polizeibericht
Langfinger, die sechzehnte
Die Einbruchsserie in Haller Innenstadthäusern reißt nicht ab. In der Nacht zum Montag wurde in einem frisch renovierten Einfamilienhaus im Postgütle der Tresor entwendet. Die Täter gingen mit äußerster Brutalität vor, rissen den Tresor aus der Wand und stießen ihn über die Marmortreppe aus dem ersten Stock ins Erdgeschoss. Der Schaden an der Treppe betrug über 30 000 Euro. Mit dem Tresor selbst fielen den Tätern Sammelmünzen und Schmuck im Wert von über 125 000 Euro in die Hände. Die Polizei fordert alle Innenstadtbewohner zu erhöhter Aufmerksamkeit auf. Sonderstreifen werden eingesetzt. Hinweise bitte an alle Polizeidienststellen.
19 : 30 Uhr
Er kam vom Regen unter Umgehung der Traufe direkt in die Scheiße.
Winfried Bornemann
»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie die Nase des reifen Rock Hudson haben?«, fragte Frau Denner.
Siggi Seifferheld versuchte, das »reif« zu überhören und geschmeichelt zu lächeln.
»Und Ihre Augen sind die von Humphrey Bogart«, konstatierte sie und sah ihn über den Rand ihrer randlosen Brille intensiv an.
»Danke.« Was hätte er sonst darauf erwidern sollen? Er verspürte ein leichtes Kribbeln in der Magengegend.
»Und der ganze Eindruck … so als Mann insgesamt … definitiv John Wayne!« Sie lehnte sich triumphierend zurück, als habe sie dem Kosmos an diesem Tag mehrere tiefe Geheimnisse entrissen.
»John Wayne mit Gehhilfe«, ergänzte Seifferheld, fühlte sich aber enorm gebauchpinselt, weil John Wayne ja sein Jugendheld gewesen war.
»Ach, ich liebe das klassische Hollywood. Legenden der Frühzeit.« Frau Denner schmolz dahin. Man sah es auch äußerlich, denn sie ließ ihre Muskelkontrolle Muskelkontrolle sein und ergoss sich butterweich in Seifferhelds Ledersessel am Fenster.
Legende der Frühzeit? Seifferheld kam sich auf einmal sehr alt vor. Dinosaurieralt. Aber im Vergleich zu Frau Denner war er ja auch angejahrt. Rein biologisch konnte er ihr Großvater sein. Sein Kribbeln löste sich unter dem mikroskopischen Scheinwerferlicht der Realität auf.
»Sie haben die Akte von Bellingen dabei?«, fragte er mit betont berufsmäßiger Stimme.
Frau Denner ruhte immer noch lässig hingestreckt auf dem Sessel, nur dass sie zwischenzeitlich ihren Pulli ausgezogen hatte (bei alten Leuten war es grundsätzlich immer zu warm) und man sehen konnte, dass sie unter ihrem hellgelben Batikshirt keinen BH trug.
Seifferheld drehte sich ruckartig zu ihrer Jutetasche mit der Aufschrift
Free Tibet
um, die sie auf sein Bett geworfen hatte.
»Ist sie da drin?« Er nahm ihre Tasche und trat auf Frau Denner zu, wobei er mit seinen Blicken geflissentlich die Region unterhalb ihres Kinns mied.
Frau Denner, die Nachfolgerin von Biggi, seiner langjährigen Sekretärin bei der Mordkommission, schien charakterlich so völlig anders. Biggi hatte ihm auch nach seiner Versetzung in den Vorruhestand Akteneinsicht gewährt. Aber Frau Denner war die Effizienz in Person und noch dazu unkorrumpierbar. Hatte er immer gedacht. Ob sie ihm an diesem Abend nur eine Falle stellte?
Sechs Pensionen in Bozen hatte er angerufen, bevor er Biggi an der Strippe hatte und sie fragen konnte, ob Frau Denner ihn an die Polizeichefin verpetzen würde. Dafür musste er sich Biggi natürlich anvertrauen.
»Du stickst? Echt? Nein!« Klang das einen Tick zu übertrieben?
Seifferheld grummelte. »Zu niemand ein Wort, verstanden?«
Biggi kicherte nur.
»Zu niemand!«, wiederholte Seifferheld. »Und was ist jetzt mit der Denner? Bin ich paranoid oder was?«
Biggi, die Frau mit dem sechsten Röntgensinn, wusste um die Schwachstelle ihrer Nachfolgerin. »Sie will wirklich Sticken lernen. Ist ihre Achillesferse, frag mich nicht, warum. Vielleicht ein Kindheitstrauma. Mich hat sie auch schon gefragt, ob ich es kann. Bring es ihr bei, und du darfst dir im Gegenzug alles wünschen. Wirklich alles.«
Seifferheld war auf dieses »wirklich alles« nicht näher eingegangen, sondern hatte sich bedankt und gesagt: »Gell, Biggi, das muss aber wirklich niemand wissen, dass ich sticke.«
Biggi hatte aufgelacht. »Siggi, alte Socke, das weiß schon halb Hall. Du hättest deine Jungs vom Kochkurs auf absolute Geheimhaltung einschwören sollen!«
»Das habe ich doch getan!«
»Na, genützt hat es nichts. Also, mach, was du willst, aber wenn du nicht machst, was ich dir sage, geht es in die Hose. Bring der Denner das Sticken bei, löse
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