Nadelstiche
zur Rosamond Street wolltest, aber er konnte nicht wissen, wem du dort begegnen würdest. Bist du sicher, dass der Kontakt mit der Nachbarin und dem Hausmeister von dir ausging?«
»Natürlich bin ich sicher. Und ich bin die ganze Zeit niemandem sonst nahe gekommen … außer –« Sie verstummte, als ihr einfiel, wie sie in das Mietshaus gelangt war.
»Außer was?«
»Als ich vor dem Haus stand und überlegt hab, ob ich klingele, kam ein Mann heraus und hielt mir die Tür auf. Ich hab gedacht, er wäre bloß ein höflicher Nachbar, aber vielleicht hatte er auch auf mich gewartet.«
»Und du glaubst, in den paar Sekunden, als du an ihm vorbei durch die Tür gegangen bist, könnte er in die Tasche gegriffen und den Brief herausgezogen haben?« Sam stand auf und goss sich Kaffee nach.»Falls sie den Brief unbedingt zurückhaben wollten, wäre es zu riskant, alle Hoffnungen auf diese eine kurze Gelegenheit zu setzen. Taschendiebstahl funktioniert am besten in überfüllten Fahrstühlen, im Gedränge an Fußgängerampeln, in der U-Bahn – also an Orten, wo das Opfer damit rechnet, angerempelt zu werden, und wo der Täter in der Menge untertauchen kann.«
Manny musterte ihn argwöhnisch. »Du scheinst dich ja ziemlich gut mit dem Thema auszukennen. Wenn wir dein Zimmer durchsuchen, würden wir dann eine Sammlung von Brieftaschen finden?«
»Nein, nein.« Sam grinste. »Ich nehm immer nur das Bargeld raus und schmeiß die Portemonnaies weg. Aber mal im Ernst, fällt dir irgendwas ein, wann du gestern von Menschen umgeben warst?«
Manny kaute auf der Unterlippe, während sie noch einmal jede Szene des langen ereignisreichen Tages Revue passieren ließ. »Als ich mein Auto aus der Tiefgarage geholt hab, waren da vier oder fünf Leute, die auch darauf gewartet haben, dass ihre Wagen rausgefahren wurden. Da ist nicht viel Platz, deshalb standen wir ziemlich dicht zusammen.«
»Da könnte es eher passiert sein«, sagte Sam. »Es könnte also sein, dass die Person, die von Paco den Tipp bekommen hat, deinen Alltag kennt und weiß, wo du dein Auto untergestellt hast.«
»Und dass du nach Brooklyn fahren würdest«, fügte Jake hinzu, »anstatt die U-Bahn zu nehmen.«
»Ihr meint, es ist jemand, den ich kenne?«
»Oder jemand, der dich seit einer Weile beobachtet«, sagte Jake. »Was uns wieder zu der Frage bringt, wie du überhaupt an den Fall gekommen bist.« Er reichte Manny erneut das Telefon. »Ich glaube, die Aufwärmphase mit mir hat genügt. Du bist bereit, dich mit Maureen Heaton auseinanderzusetzen.«
Manny atmete einmal tief durch und wählte. Wie erwartet, vergingen die ersten fünf Minuten des Telefonats in einem Wirbelwind ängstlicher Spekulationen seitens Maureens. Schließlich gelang es Manny, die Frage anzusprechen, die sie interessierte. »Maureen, helfen Sie doch bitte meinem Gedächtnis auf die Sprünge. Wer hat Ihnen noch mal empfohlen, mich als Travis’ Anwältin zu nehmen?«
»Sie heißt Tracy. Ihren Nachnamen kenne ich nicht. Sie arbeitet als Schwester im Chelsea-Pflegecenter. In der Nacht, als ich den Anruf bekam, dass Travis verhaftet worden war, hab ich da einen Privatpatienten versorgt. Ich musste sofort weg, aber ich konnte meinen Patienten nicht allein lassen. Tracy war so verständnisvoll. Sie hat gesagt, ich sollte ruhig gehen, es wäre eine ruhige Nacht und sie könnte sich zusätzlich um meinen Patienten kümmern.
Dann hat sie mir Ihre Visitenkarte gezeigt und gesagt, sie würde Sie anrufen und bitten, sich bei mir zu melden, für den Fall, dass Travis einen Anwalt bräuchte. Sie hatten irgendwann mal ihrem Neffen geholfen … oder ihrem Cousin? Jedenfalls, als ich im Gefängnis gewartet hab, kam Ihr Anruf, und da wusste ich schon, dass ich Sie wirklich brauchen würden. Und die Leute sagen immer, New Yorker wären gefühlskalt, aber ich fand schon immer, dass das nicht stimmt.«
Manny murmelte ein paar aufmunternde Worte und beendete das Telefonat behutsam.
Während sie die Nummer vom Chelsea-Pflegecenter wählte, schilderte sie Jake und Sam die Einzelheiten des Gesprächs.
»Woher soll ich wissen, ob einer meiner Mandanten eine Tante oder Cousine hat, die Tracy heißt und Krankenschwester ist?« Die folgenden fünfzehn Minuten verwandte Manny darauf, mit der Frau in der Zentrale zu sprechen, mit dem Personalchef, mit der Leiterin des Pflegedienstes und überhaupt mit jedem, den sie in dem kleinen Pflegeheim an die Strippe bekam. Mit jedem Gespräch wuchs ihre Frustration.
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