Nadelstiche
ungewöhnlich blau, ohne Wolken oder Dunstschleier, und Manny wandte ein paarmal den Blick von der Straße, um durchs Fahrerfenster die Skyline von Manhattan zu betrachten. An so einem Tag konnte man sich einfach keine Sorgen machen!
Sie war zu beschäftigt und abgelenkt gewesen, um Sam nach dem Boo-Hravek-Aspekt des Falls zu fragen, aber er war der Sache offenbar weiter nachgegangen. Vielleicht lag hier das fehlende Teilchen, durch das all die anderen losen Puzzleteilchen plötzlich ein erkennbares Ganzes ergaben. War Sam durchaus zuzutrauen, dass er es fand.
Manny hielt an einer Ampel. Sie war schon lange nicht mehr auf dieser Seite des Hudson Richtung Süden gefahren. Der Verkehr war schlimmer, als sie in Erinnerung hatte. Überall entstanden Luxuswohnungen mit Blick auf den Fluss. Sie verdrängten die alten Lagerhäuser und Fabriken, die dieses Industriegebiet am Wasser beherrscht hatten. Nur ein paar alte Relikte standen noch und warteten auf den Zugriff der Bauunternehmer.
Manny schielte auf die Uhr. Eigentlich hätte sie gedacht, inzwischen längst in Hoboken zu sein, aber sie war erst bis nach West New York gekommen, also noch ein ganzes Stück entfernt. Während sie durch die überfüllten Straßen der Stadt fuhr, bot sich ihr zwischendurch immer mal wieder der Blick auf den Fluss. West New York war dieser Tage das, was Hoboken vor zwanzigjahren gewesen war – kurz davor, trendy zu werden, aber vom Charakter her noch immer ursprünglich und derb. Ein Schatten fiel über den Wagen, geworfen von einem großen leer stehenden Gebäude mit der halb verblassten Inschrift FEUERFESTE KLEIDUNG auf einer Seite. Wahrscheinlich war das die nächste Fabrik, die in Lofts umgewandelt werden würde. Hier könnte sie eine Wohnung bekommen, die fünfmal so groß, aber genauso teuer war wie ihr Apartment in Manhattan.
Schließlich sah Manny das Ortsschild von Hoboken. Der Club Epoch war ganz in der Nähe, am Nordrand der Stadt, und als Manny davor parkte, sprang die Uhr in ihrem Armaturenbrett gerade auf 11:00. Sie stieg aus und sah sich nach Sam um. Die Straße war menschenleer. Sie rief Sams Handy an und bekam gleich die Mailbox.
Ein Kiosk an der Ecke schien der einzige Punkt zu sein, wo sich etwas rührte. Vielleicht hatte jemand da drin Sam auf dem Bürgersteig vor dem Club gesehen. Sobald Manny eintrat, überfiel sie der Geruch von verbranntem Kaffee, der den ganzen Tag warm gehalten wurde. Die wasserstoffblonde Frau hinter der Theke mühte sich mit der Lottomaschine ab, während zwei ärmlich gekleidete Männer ungeduldig darauf warteten, ihr Geld loszuwerden. Der Versuch, diese Transaktion mit ein paar Fragen zu unterbrechen, wäre zwecklos. Manny stellte sich an, und während sie wartete, fiel ihr Blick auf die Zeitungen, die vor der Theke auslagen. Von der New York Times mit ihrer dezenten Schlagzeile: NEUE WENDUNG BEI JAGD AUF »VAMPIR«, bis hin zur New York Post, die reißerisch titelte: BOMBENLEGER IN VAMPIRHÖHLE , brachten alle drei New Yorker Blätter und der Newark Star-Ledger den Vampir-Fall als Aufmacher.
Ein dicke Frau mit zahllosen Zöpfen auf dem Kopf nahm sich die Post und begann eine Unterhaltung. »Menschenskind«, sagte sie, »ist ja gruselig. Da rennt einer rum und zapft Leuten Blut ab.« Sie schloss die Augen und schauderte.
Manny nickte geistesabwesend, bemüht, die Verkäuferin auf sich aufmerksam zu machen, damit sie fragen konnte, ob sie Sam in der Nähe oder beim Betreten des Clubs gesehen hatte.
»Wieso kriegen die den nicht?«, sprach die Frau weiter. »Heutzutage gibt’s doch diese DNS, und trotzdem kommen die nicht weiter. Wissen Sie noch die Sache mit diesem Berkowitz? Den haben sie nur geschnappt, weil er irgendwann falsch geparkt hatte. Ich wette, diesmal kommt das auch so.«
Ein anderer Mann stellte sich in die Schlange und nahm Manny die Verpflichtung ab, irgendwas sagen zu müssen, indem er sich in das Gespräch einmischte. »Hoffentlich erwischen die den bald, der Scheiß macht mich echt fertig. Mann, bei Nadeln krieg ich echt zu viel. Mit Knarren komm ich klar, aber nicht mit Nadeln.«
Manny blickte auf. Der Mann hatte Hände wie Bärentatzen und einen Hals so dick wie ein Sumo-Ringer. Aber der Abscheu in seinem Gesicht verriet ihr, dass ihm der Vampir wirklich Angst einjagte.
»Und dann noch der Typ, den die Ratten angefressen haben«, rief die Frau dem Mann ins Gedächtnis.
»O Mann, hör mir bloß auf! Wenn sie den Kerl erwischt haben, dann –«
Die beiden
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