Nächsten Sommer
Wand empor. Als ich mich aufsetze, steht sein Kopf genau zwischen mir und der Sonne. Sonst hat er wild wuchernde Locken, jetzt aber ist es ein brennender Helm.
»Ja«, antworte ich und deute auf die Arzttasche neben meinem Bett.
Fünf Minuten später drehe ich den Schlüssel im Zylinder und überlege, ob ich etwas vergessen habe. Nein, habe ich nicht. Ich spüre das Gewicht der Tasche in meiner Hand. Die Habseligkeiten, |17| die noch im Bauwagen liegen, kann man an einer Hand abzählen. Trotzdem kommt es mir vor, als würde ich wer weiß was zurücklassen.
Marc wartet mit seiner Frage, bis wir vor dem Kreisverkehr in der Frankfurter Allee stehen, die Sonne im Rücken. »Ist was?«
Der Brunnen auf der Mittelinsel schläft noch. An dem Schaltkasten neben mir lehnt eine verlorene Nachtgestalt und übergibt sich auf den Grasstreifen.
»Ich hätte mich gerne von Hit and Run verabschiedet«, antworte ich.
Als letzte Nacht gegen drei Achmed und sein BMW anrollten, saß ich noch auf der Leiter des Westflügels, blickte der untergegangenen Sonne hinterher und dachte über den Abend nach. Bei Bernhard vor dem Fernseher hatte ich noch überlegt, wie lange es uns wohl noch geben würde, so, zu viert. Dann kam Marc und elektrisierte alle mit seiner Idee, gemeinsam nach Frankreich zu fahren. Und plötzlich gab es uns wieder, uns vier. Vielleicht ist er auch deshalb so ein guter Gitarrist – weil bei ihm der Funke überspringt. Ich könnte das nie.
Achmed kam um den Bauwagen herum, warf einen Blick in die Nacht hinaus und streifte an der Regentonne den Kronkorken seiner Bierflasche ab. Sein Auto stand 30 Meter entfernt, trotzdem hörte ich, wie Bushido es gegen jeden verteidigte, der ihm zu nahe kam.
»Hab mir gedacht, dass du noch hier rumsitzt«, begrüßte er mich.
Er hatte zwei Flaschen dabei, eine für mich. Behauptete er.
»Ich trinke nicht«, sagte ich.
»Ach so, stimmt ja.«
Er trank. Anschließend studierte er das Etikett, das im Dunkeln nicht zu entziffern war: »›Green Lemon‹ oder so’n Scheiß. Fragt man sich doch, warum wir Türken da noch Deutsch lernen sollen.« Er nahm einen weiteren Schluck, wie um sicherzugehen.
»Schmeckt wie Zitronenpisse«, stellte er fest.
»Warum trinkst du es dann?«
Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zündete sich |18| eine an, lehnte sich gegen den Wagen und blies den Rauch aus, der ihn lange einhüllte, bevor er sich verflüchtigte. Nicht einmal die Blätter an den Kirschbäumen bewegten sich heute Nacht.
Er grinste: »Schmeckt irgendwie ganz geil – Zitronenpisse.« Ich fragte mich, warum er das machte: Nachts um drei aufkreuzen, sich neben die Leiter stellen, gegen den Wagen lehnen, sein Bier trinken und wieder verschwinden. Möglich, dass er es selbst nicht wusste. Vielleicht gab es nicht einmal den Sicherheitsdienst, für den er angeblich arbeitete. Hätte mich nicht gewundert. Eigentlich ist er wie Hit and Run, dachte ich, außer dass er sein Bier selbst mitbringt.
»Morgen früh fahr ich vielleicht weg«, sagte ich.
»Und? Wohin?«
»Frankreich.«
»Was willst’n da? Frankreich ist doch Scheiße.«
»Hat mein Vater auch immer gesagt.« Trotzdem, denke ich, wollte er um jeden Preis Hugos Haus haben.
»Und?«, fragte Achmed. »Was willste dann da?«
»Weiß noch nicht.«
Achmed ließ erneut seinen Blick über das Gelände schweifen. Das Grundstück war noch da, Job erledigt. Bald darauf hebelte er den Kronkorken der zweiten Flasche ab.
»Könntest du Hit and Run füttern, solange ich weg bin?«, fragte ich.
»Wann kommst’n wieder?«
»Weiß ich noch nicht.«
Ein Vogel zwitscherte, ganz in der Nähe. Er musste in einem der Kirschbäume sitzen. Es gibt einen, der die ganze Nacht hindurch singt. Er meidet den Wettkampf. Erst wenn alle anderen verstummt sind, läuft er plötzlich zu Hochform auf.
Vorne im Gras bewegte sich etwas, aber als es näher kam, war es nur der Fuchs, der es auf das Katzenfutter abgesehen hatte.
»Was soll’n das überhaupt für ein Name sein?«, fragte Achmed, »Hit and Run.«
»Auf und davon«, sagte ich.
Er lehnte sich gegen den Wagen, nahm einen Schluck und blickte ins Nichts: »Ist doch kein Name – Auf und davon.«
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Marcs Bus hat mal einem Lebenshilfeverein gehört, den »Straight Edges«. Die untere Hälfte ist leuchtend orange lackiert, die obere weiß. Auf der Schiebetür ist ein Schriftzug angebracht:
STRAIGHT EDGES
LEBEN OHNE DROGEN
Das Projekt wurde eingestampft, als sich
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