Nächsten Sommer
hat, seit drei Jahren nicht mehr ohne Hilfe aus dem Bett kommt und seit einem Jahr gar nicht mehr. Sie ist im Pflegeheim »Rosengarten« untergebracht, und jeden Tag, wenn Bernhard nach der Arbeit dorthin fährt, schämt er sich. Der Gang zu seiner Mutter ist für ihn das Eingeständnis einer Kapitulation. »Das ist nicht der richtige Ort für sie«, sagt er.
Er gibt die Hälfte seines Gehalts zu ihrer Rente dazu, damit sie im »Rosengarten« wohnen kann, doch selbst das reißt es nicht raus. Im Gegenteil: Er hat das Gefühl, sich schuldig zu machen, indem er sich mit Geld aus der Verantwortung zieht.
Bernhard also wollte nicht mitkommen, so der Stand gestern Abend, 22 Uhr 45. Um 22 Uhr 46 rief Zoe dann unvermittelt aus: »Ich bin dabei!« Aus dem Hof schallten Fußballgesänge zu uns herauf. »Was glotzt ihr denn so?«, fragte sie. »Ich bin dabei.«
»Aber du kannst doch nicht einfach so Urlaub nehmen!«, wandte Bernhard ein.
Sie zog einen Schmollmund: »Warum eigentlich nicht?« Mit |22| diesen Worten nahm sie ihr Handy aus der Tasche und verschwand auf dem Balkon.
»Gibt’s noch Bier?«, fragte Marc.
»Im Kühlschrank«, antwortete Bernhard, ohne seinen Blick von der Balkontür zu wenden.
»Noch jemand?«
Keine Antwort.
Nach zwei Minuten kam Zoe zurück. Marc stellte gerade seine Bierflasche neben dem Untersetzer ab.
Ihr Lächeln war ein Triumph: »Hab doch gesagt, ich bin dabei.«
Noch einmal zwei Minuten später war Bernhard auch dabei.
»Wo habt ihr denn Zoe gelassen?«
In seinem Schuhkrematorium wirkt Bernhard wie ein Hohepriester.
»Zu Hause«, antwortet Marc.
Bernhards Gesicht verformt sich zu einem bangen Fragezeichen.
»Sie fliegt am Montag auf einen Kongress nach Chicago«, erklärt Marc. »Future management business constructions oder so ähnlich.«
Wenn in Bernhards Flur eine von diesen altmodischen Uhren hängen würde, könnte man jetzt das Pendel hören.
»Mit Ludger?«, fragt Bernhard.
Er kennt die Antwort. Wir alle kennen sie. Deshalb sagt auch keiner etwas. Marc kratzt sich den Staub aus den Haaren. Mit seinen ausgetretenen Chucks, der zerschlissenen Jeans und dem verblichenen T-Shirt sieht er aus wie ein ungemachtes Bett.
»Du kannst hierbleiben und bis zur Sonnenwende deine Badewanne vollheulen – oder du kannst mit nach Frankreich kommen.«
Bernhard presst die Lippen aufeinander, schiebt seinen Unterkiefer von rechts nach links, vergräbt die Hände in den Taschen und sieht uns an, als müsste einer von uns jetzt etwas sagen, das ihn erlöst.
Am Ende erlöst er sich selbst: »Ach, was soll’s!«
Er verschwindet im Schlafzimmer, und als er wieder herauskommt, zieht er seinen Alu-Rollkoffer hinter sich her.
|23| 5
Was Marc zum Anziehen dabeihat, passt bequem in seine Sporttasche. Für seine CD-Auswahl dagegen ist unter zwei großen Holzkisten nichts zu machen.
»
Noch
weniger ging nun wirklich nicht«, kommentiert er Bernhards Blick.
Als wir die Stadt verlassen, uns auf der Avus nach Süden wenden und die verwaisten Tribünen passieren, stellt sich zum ersten Mal diese besondere Aufbruchsmelancholie ein. Nur dass bei mir der Aufbruch Abschied heißt. Marc hat den Beifahrersitz so montiert, dass man mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt. So sehe ich nie, was auf uns zukommt, sondern nur, was bereits hinter uns liegt. Wie meine Großmutter früher, den Blick immer in die Vergangenheit gerichtet. Vielleicht, denke ich, passiert das bei jedem irgendwann – dass sich der Sitz dreht und man nicht mehr nach vorne sieht, sondern nur noch nach hinten. Eine Frage des Alters. Oder der Einstellung. Vielleicht.
Ich jedenfalls sehe eine Rauchwolke, die sich an den Bus gebunden hat. Außerdem ist da ein merkwürdiges Geräusch – wie von etwas, das sich selbst zerstören will. Doch es ist nicht Bernhard, der dieses Geräusch macht, sondern der Auspuff.
»Glaubst du im Ernst, dass wir mit der Kiste bis nach Frankreich kommen?«, fragt Bernhard.
Marc blickt in den Rückspiegel. »Kein Problem.« Er macht eine beschwichtigende Geste, fährt auf die Standspur und lässt den Bus ausrollen.
Während wir warten, bis der Auspuff abkühlt, zupft Marc ein paar Akkorde auf der Gitarre, doch die passende Melodie dazu will nicht richtig gelingen.
»Die ganze Idee ist totaler Schwachsinn«, kommentiert Bernhard, »wir sind noch nicht mal aus der Stadt raus, und schon ist die Kiste im Arsch.«
|24| »Wenn du einen Vorwand suchst, um abzuspringen«, antwortet Marc, »gibt keinen
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