Nächsten Sommer
Gruppenzwang. Aber versuch nicht, uns den Trip auszureden. Den Gefallen tun wir dir nicht. Den Schwanz einziehen musst du schon alleine.«
Statt zu antworten, schnauft Bernhard nur und blickt aus dem Fenster.
Marc versucht es andersherum: Summt erst die Melodie, die er im Kopf hat, und legt anschließend die Akkorde darunter. In diesem Stadium höre ich ihm am liebsten zu: Wenn er schon eine Idee hat, aber noch keinen Song – wenn die Dinge bereits existieren, aber erst noch zueinanderfinden müssen.
»Lass doch so«, schlägt Bernhard vor, »klingt okay, finde ich.« Marc nimmt die Finger von den Saiten. Wenn er etwas zu sagen hat, kann er nicht gleichzeitig spielen. Beim Denken, sagt er, hilft Spielen, beim Reden stört es. »Erstens«, erklärt er, »ist ›okay‹ nicht genug, und zweitens öffnet sich der Refrain nicht. Da muss mehr Sonne rein, der Refrain muss ein Versprechen einlösen. Alles eine Frage der richtigen Energie.«
Wenn Marc über Musik redet, spricht er gerne über Energien, über Klang gewordene Emotionen und wie man all das physisch erfahren kann. Ich denke manchmal, was für ihn die Akkorde sind, sind die Zahlen für mich.
Bernhard kann mit beidem nichts anfangen. Bei Zahlen sieht er nur Vektoren und Effizienzquotienten, und bei Musik … gar nichts. »Energien …« Er lässt das Wort in der Luft hängen. »Das hat doch nichts mit Musik zu tun! Du immer mit deinem Gequatsche von Energien und wie sich Musik ›anfühlt‹. Musik fühlt sich nicht an. Vielleicht solltest du lieber mal mit Verstand rangehen, statt dich immer nur zu fragen, wie sich das anfühlt.«
Marc bedenkt Bernhard mit einem Blick, der irgendwo zwischen
arroganter Schnösel
und
armer Tropf
angesiedelt ist, legt die Gitarre in den Koffer zurück und steigt aus. »Was du nicht begreifst, Bernhard, und vermutlich nie begreifen wirst, ist, dass Gefühle ihren eigenen Verstand besitzen.«
Er wartet, bis klar ist, dass Bernhard dem nichts entgegenzusetzen hat, dann verschwindet er bis zur Hüfte unter dem Bus.
»Hab ich doch gleich gesagt!«, ruft er gegen das Dröhnen der |25| vorbeifahrenden LKWs an. »Ein Fliegenschiss! Felix, gib mal ’ne Rolle Gaffa aus dem Bus!«
Marc klebt also den Auspufftopf mit Gaffa fest, und um das lästige Restklappern zu übertönen, schiebt er vor der Weiterfahrt eine CD ein.
»Die neue Cat Power – geiler Stoff«, klärt er mich auf.
Im nächsten Moment verschwinden meine Ohren im Bauch einer Bass-Drum. Das ist Marc: Der Bus hält nur noch mit Gaffa-Tape, aber mit der Anlage könnte man die Waldbühne beschallen.
Erst nachdem wir die Stadtgrenze passiert haben, wird mir klar, dass der Song eine Cover-Version von »New York, New York« ist, nur dass man Sinatras Text kaum wiedererkennt und die Musik gar nicht mehr. Doch das Gefühl ist da: Aufbruch, Möglichkeit, Sehnsucht.
I’m leaving today … If I can make it there …
Die Autobahn schlägt eine Schneise durch einen Kiefernwald. Immer wieder offenbaren die Bäume für Sekundenbruchteile eine geheime Symmetrie und formieren sich zu Reihen, um gleich darauf in einem undurchdringlichen Chaos aufzugehen. Die Morgensonne bricht schräg durch die Baumkronen und verwandelt den Wald in einen Teppich aus gewebtem Licht. Achtzehn Jahre hat Onkel Hugo in diesem Haus in Südfrankreich gelebt, und ich habe ihn kein einziges Mal besucht. Ich weiß nicht einmal, warum.
Marc dreht mir sein Gesicht zu: »Fragst du dich, was gerade mit dir los ist?«
Inzwischen ziehen Felder vorbei, der Blick weitet sich. Manche Dinge verschmelzen in der Ferne zu bunten Punkten.
»Vielleicht«, antworte ich.
»Ein neuer Tag, ein neues Leben – das ist mit dir los.«
Also ist es auch bei dir angekommen, denke ich. Aufbruch, Möglichkeit, Sehnsucht.
Marc umfasst das Lenkrad, als drohe es ihm aus der Hand gerissen zu werden: »Ahh – ich fühl mich wie Odysseus!«
Ich sehe ihn an: »Du glaubst, wir werden Schiffbruch erleiden?«
»Nicht mit genug Gaffa an Bord!«
»Verstehe – du willst liebestolle Göttinnen mit gebrochenen Herzen zurücklassen.«
|26| Marc grinst dieses spezielle Grinsen, mit dem er noch jede Frau in seinen Bus gelockt hat. »Wär doch geil, oder?«
»Und was ist mit Frau und Kind, die zu Hause treu und ergeben auf dich warten?«, wende ich ein.
»Shit – ich wusste, die Story hat einen Haken.« Er überlegt kurz: »War Odysseus eigentlich je in Frankreich?«
»Höchstwahrscheinlich nicht«, antworte ich.
»Hätte er mal
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