Nächsten Sommer
meinen Arm.
»Loslassen«, sagte er.
Der Flieger schwebte in vollkommener Ruhe durch den Raum, wobei er einen perfekten Halbkreis beschrieb – vorbei am Regal und zwischen den Zweigen des Weihnachtsbaums hindurch –, um schließlich in Opas Schoß zu landen, der keine Notiz davon nahm, sondern nur weiter friedlich lächelte.
Bei dem Versuch, den Wagen unter der Heizung hervorzuziehen, brach eine Seite des Spoilers ab.
»Scheißding!«, rief Sebastian aus.
Vater gab Sebastian den Kasten wieder. »Wie sieht’s aus, Hugo?«, wandte er sich an seinen Bruder. Sogar Opa wusste, welche Frage sich an diesen Satz anschließen würde: »’ne Partie Schach?«
Hugos Antwort war dieselbe wie jedes Jahr: »Wie du willst.«
Danach zogen sich die beiden in Vaters Arbeitszimmer zurück.
[ Menü ]
|13| Erster Tag
Und ihr seht mich als Punkt
Am Horizont verschwinden,
Um ein Stück weiter hinten
Mich selbst zu finden.
(Thomas D.)
|15| 3
»Na, Diogenes«, begrüßt mich Marc. »Hast du deinen Löffel und deine Schale eingepackt?«
Er ist tatsächlich gekommen. Ich hätte nicht geglaubt, dass seine Euphorie so lange vorhalten würde. Es ist sechs Uhr dreißig. Erste Flugzeuge ziehen weiße Kondensstreifen in den noch tiefblauen Morgenhimmel. Die Stadt wacht eben erst auf.
Mein Bauwagen ist 5 Meter 20 lang und 2,30 breit. Marc übertreibt also, wenn er mich mit Diogenes vergleicht. 11,96 Quadratmeter. Genauso viel wie eine Gefängniszelle, sagt Bernhard. Keine Ahnung, woher der so etwas weiß. Jedenfalls finde ich meinen Bauwagen ganz schön geräumig. Außerdem hat er zwei Türen, was die wenigsten von ihrer Wohnung sagen können. Ich habe ihn so hingestellt, dass durch die eine Tür die Morgen- und durch die andere die Abendsonne scheint. Und ich habe 17000 Quadratmeter Garten.
Marcs Vater soll in diesem Garten einen Wellnesspark bauen, aber seit der Grundsteinlegung letztes Jahr ist nichts mehr passiert. Die Wirtschaftskrise hat den Investoren die Luft ausgesaugt. Marcs Vater meint, es kann noch Jahre dauern, bis eine endgültige Entscheidung gefällt wird. Bis es so weit ist, hat er mir erlaubt, meinen Wagen auf das Grundstück zu stellen, inklusive Strom und fließend Wasser. Dann wird wenigstens nicht so viel geklaut, meint er. Aber das sagt er nur, damit ich kein schlechtes Gewissen habe. Kein Mensch klaut einen gelegten Grundstein. Und sonst gibt es nur meinen Bauwagen und wucherndes Unkraut.
Nachts um drei und mittags um eins kommt Achmed von der Sicherheitsfirma und sieht nach, ob das Grundstück noch da ist. Er fährt einen tiefergelegten 3er BMW, den ich bereits am Sound erkenne, wenn er noch zwei Straßen entfernt ist, und er streichelt gerne Hit and Run, meine Katze, vorausgesetzt, sie ist gerade mal da. Hit and Run ist grau, mit blauen Augen. Zoe meint, Siamkatzen |16| hätten blaue Augen, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Sie ist nicht gemustert oder so, einfach nur silbrig-grau. Als trüge sie einen Designeranzug. Und so bewegt sie sich auch. Mäuse fangen ist eigentlich total unter ihrer Würde. Doch der Geist ist willig, aber der Körper schwach. Scheißinstinkte.
Eigentlich ist sie gar nicht
meine
Katze. Sie trieb sich schon auf dem Grundstück herum, bevor ich hier anrückte. Zwei Wochen lang schlich sie um den Bauwagen, dann stand sie eines Morgens an meinem Bett und verlangte, endlich gefüttert zu werden. Sie kann sehr fordernd sein. Sobald sie dann hat, was sie will, ist sie auf und davon. Daher der Name. Im Grunde bekomme ich sie seltener zu Gesicht als den Fuchs, der nachts über das Gelände patrouilliert.
Zurück zu Achmed: Von dem also lässt sie sich gelegentlich streicheln. Von mir nicht. Ist kein Wunder, meint Achmed, alle geilen Chicks stehen auf ihn. Dass Hit and Run ein Kater ist, weiß er nicht.
Sechs Uhr dreißig ist die schönste Zeit des Tages in meinem Garten. Wenn ich die Tür nach Osten öffne, scheint die Morgensonne auf mein Bett und trägt die Stimmen von einem Dutzend verschiedener Vogelarten herein. Es ist keinen Monat her, da stand der Wagen um diese Zeit noch hüfthoch im Nebel – als könne man darauf traumwandeln. Kurze Zeit später begann die Kirschblüte. Letzte Woche dann schneiten um sechs Uhr dreißig die ersten Blütenblätter herein und verteilten sich über den Boden, als sei in der Nacht ein Engel durch den Wagen geschwebt und habe sie verstreut.
Marcs langer Schatten leckt sich das Bett hinauf, züngelt über meine Decke und rankt sich die
Weitere Kostenlose Bücher