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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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Meeresfrüchten
     bei Kerzenlicht |47| und Rotwein; sicher wollte Irene mir noch einen schönen Abend bereiten, oder sich selbst, bevor sie es mir am Freitagmorgen
     dann sagte. Ich glaube nicht an spontane Beschlüsse bei Irene.
    Eva wäre so etwas mitten in der Nacht eingefallen, und sie hätte nicht bis zum Morgen gewartet, sondern mich aus dem Bett
     gescheucht, ihre Sachen genommen, und zwar sofort.
     
    Überhaupt liebte Eva die Nächte.
    Als wir jung waren und noch nicht so viel Schlaf brauchten und nicht immerzu Angst hatten, die Tage nicht bewältigen zu können,
     liebten wir alle das Leben in den Nächten.
     
    Nachdem Irene mich verlassen hatte, schrieb ich ihr einen langen Brief, in dem ich versuchte, ihr alles zu erklären. Erst
     als ich die erste Seite mit meiner schwer lesbaren Handschrift gefüllt hatte, begriff ich, dass ich schon wieder dabei war,
     mich zum Idioten zu machen. Was hätte ich denn zu erklären gehabt? Sie war doch gegangen! Ich knüllte das Papier zusammen
     und warf es in den Mülleimer, Schmerz und Schmutz –
     
    Manchmal frage ich mich, ob frühere Zeiten wirklich besser waren. War nicht das Entscheidende immer schon da: das plötzliche
     unsinnige Glück, das Verliebtsein, die Trauer über die Unfähigkeit, dieser Liebe nachzugehen, sie zu leben, die Trauer über
     die vielen Absurditäten des Lebens? Ist mein Philosophieren das eines Privilegierten? Bin ich ein Fatalist? Bin ich blind
     für die Nöte anderer? In der Gästetoilette im Haus meines Großvaters hing ein Stück Holz mit eingeschnitzten Buchstaben darauf:
     
    Herr, gib mir den Mut, das Änderbare zu ändern
    Die Gelassenheit, das Unabänderliche zu ertragen
    Und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden
.
     
    |48| Geh bloß weg.
    In dieser entsetzlichen Nacht, in der Eva mich fortgeschickt hatte, saß ich in meinem Souterrainzimmer und wartete. Ich traute
     mich nicht, sie anzurufen. Das Zimmer wirkte dunkel und verlassen. In mir gab es eine fühllose Stelle, die brannte.
    Ich betrachtete das Foto meiner Eltern und wischte den Staub davon ab. Ich lochte alle Zettel und heftete sie in Ordner. Ich
     drehte mich in meinem Drehstuhl hin und her. Ich saß still und tat nichts. Es war das erste Mal, dass ich so etwas erlebte.
    Sie rief an, am nächsten Tag.
    Warum meldest du dich nicht? fragte sie vorwurfsvoll.
    Ich wusste nicht, ob ich weinen sollte, lachen oder zornig werden.
     
    Der Zorn ist eine etwas unterentwickelte Figur in mir.
    Ich neige eher zum Nägelkauen. Damit man es nicht so merkt, habe ich mir angewöhnt, die Häutchen um die Nägel herum zu bearbeiten.
     Manchmal hat Eva mir auf die Hände geschlagen, wenn sie es sah. Manchmal hat sie die Finger auch geküsst und traurig gesagt:
     Sie sind doch schön, so wie sie sind.
     
    Wir trafen uns noch am selben Tag am Bahnhof Zoo. Das Herz schlug mir im Hals. Wir gingen am Landwehrkanal spazieren. An der
     Stelle, an der man Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht tot ins eisig kalte Wasser geworfen hatte, musste ich an Rosas Gefängnisbriefe
     denken. Meine Kehle wurde eng.
    Eva zog mich in Richtung Nationalgalerie und zeigte mir munter plappernd eine Treppe, die ins Wasser führte. Eine Künstlerin
     hatte die Stufen gelb und drumherum ein Rechteck blau angemalt. Ich bin das Gelb, dachte ich, und du das Blau.
    Wir liefen weiter, und ich starrte auf die bunten Graffitischriften an der Kanalmauer, ohne ihre Bedeutung zu begreifen. Eva
     verlor kein Wort über die vergangene Nacht.
    |49| Nach zwei Stunden hatte sie genug, und wir gingen ins »Café Berio« am Winterfeldplatz.
    Wir saßen im lärmerfüllten Café auf den roten Samtstühlen und tranken heiße Schokolade mit Sahne und ich schmeckte das süße
     Getränk nicht und ich hörte Worte ohne Sinn und sah nur ihr schönes Gesicht.
    Sie erzählte von ihrem geliebten Professor Heumann, der in der letzten Seminarsitzung über die Institutionalisierung der Nichtberührung
     in unserer Gesellschaft gesprochen hatte. Ich dachte an die schlechten Zähne von Theo Hölt. Eva musste die Worte zweimal wiederholen,
     bis ich sie allmählich begriff. Es war wohl so etwas wie die planmäßige Organisation, sich die Dinge vom Leib zu halten. Eine
     allgemeine Vereinzelung zu bewirken, um die erfolgreich Vereinzelten dann besser manipulieren zu können. Ich grübelte nicht
     lange über einen möglichen Hintersinn ihrer Worte, denn plötzlich, ohne jeden Grund, wachte ich aus meiner Erstarrung auf
     und fühlte

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