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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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zusammensetzt und bestimmt! Was wissen wir denn überhaupt von uns?
     
    Ich weiß heute nicht mehr, wie sich unser Schock allmählich wieder auflöste. Vielleicht wurden wir einfach nur müde.
    Eine Zeit lang stand Eva vor dem Kühlregal im Supermarkt und fragte mich, ob sie dänische Milch kaufen sollte. Weil Dänemark
     doch weiter weg lag von Tschernobyl als Bayern. Oder noch besser irische, die kostete aber fast das Doppelte. Die Regale quollen
     plötzlich über von irischen Milchprodukten. Soja war damals noch nicht so verbreitet.
    Biomilch macht ja nun auch keinen Sinn mehr, sagte Eva. Die Kühe sind alle belastet. Die armen Kühe.
    Eva trank keine Milch mehr. Sie aß Margarine statt Butter, und beim Gemüse sah sie zu, dass es aus Südamerika kam. Fleisch
     aß sie ja ohnehin kaum.
    |90| Ich sagte, es wäre egal, wir wären den Strahlungen doch ausgesetzt, ob wir die Dinge nun äßen oder nicht.
    Ich will aber vielleicht mal ein Kind, sagte Eva, da muss ich darauf achten.
     
    An jenem Samstag im April, als wir Roberts Wohnung renovierten, wusste Eva noch nicht, dass Robert Vegetarier war und nur
     Tee aus dem fairen Teehandel kaufte. Er trank ihn aus einer Designerkanne, die hundertfünfzig Mark gekostet hatte und sehr
     einfach aussah. Sicher haben sie sich in Sachen Umweltschutz blendend verstanden.
    Robert zeigte sich besorgt und mitfühlend Eva gegenüber, als wäre er selbst von der Katastrophe gar nicht betroffen. Ich verstand
     die Welt nicht mehr. Er sagte zu Eva, sie habe mich ja ganz hübsch umgekrempelt, so locker sei ich früher nie gewesen, und
     ich spürte, wie sich alles bei mir verkrampfte. Eva lachte nicht. Sie war vollkommen ernst, und in ihren Augen war etwas,
     das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Auch Robert redete in einer Weise auf sie ein, wie ich es noch nie erlebt hatte. Er
     sprach seltsam gelöst, seine Hände beschrieben Kurven in der Luft; seine Stimme bekam ein dunkles Timbre.
    Abends bei Brot und Bier erzählte Robert von Nora.
     
    Sie ist eine faszinierende Frau, sagte Robert zu Eva, du musst sie unbedingt kennenlernen.
    Irgendwie war es mir peinlich, wenn er die Frauen
Frauen
nannte; ich nannte sie immer noch Mädchen, vielleicht, weil mir der Abstand zu der Zeit, in der wir Jungen und Mädchen waren,
     nicht so groß vorkam. Er hatte auch eine Art, das
Frau
zu betonen, dass ich sofort an hässliche Unterwäsche denken musste. Eva schien zerstreut; das einzige, was sie interessierte,
     war Tschernobyl; wir mussten die ganze Zeit Radio hören. Nur aus Höflichkeit fragte sie, was denn Nora studiere.
    Medizin, sagte Robert.
    Ach so, sagte Eva.
    |91| Sie will in die Psychiatrie, sagte Robert.
    Ach? sagte Eva und zog die Augenbrauen interessiert nach oben.
     
    Ein paar Tage später entdeckte ich einen Umschlag mit Roberts Handschrift auf Evas Schreibtisch. Mein Herz sackte in die Hose.
    Was hat er dir geschickt? fragte ich.
    Ein Gedicht, sagte Eva und wurde rot.
    Ich will es nicht lesen, sagte ich. Ich brannte.
    Ich will aber, dass du es liest, sagte Eva.
    Es war nicht an sie gerichtet. Es sprach von Zuneigung und Anziehung. Und darüber stand:
Für Milena.
     
    In der Woche darauf schickte Robert einen Band mit Liebesbriefen Majakowskis an Lilja.
Für Milena
, stand in seinen eigentümlich gedrängten Buchstaben darin.
    Danach ließ Eva seine Post verschwinden. Davon ging ich jedenfalls aus. Sicher wird er ihr Kassetten und ähnliches geschickt
     haben. Ich hörte eine ganz neue Musik im Treppenhaus, wenn ich zu Eva kam. Patti Smith, Neil Young; aber es gab auch unbekannte
     düstere Lieder. Billy Bragg, sagte sie, als ich fragte, und schaltete den Apparat aus. Das war nur eine kurze Zeit. Oder später.
     Oder später wieder. Ich weiß das nicht mehr. Die Zeit schmilzt in der Erinnerung zusammen und macht Sprünge zugleich.
     
    Eva schrieb Robert einen Brief, den sie mir vor dem Abschicken zeigte. Sie war seltsam in diesen Dingen. Sie wollte ehrlich
     sein. Ich wollte es auch, aber manchmal nicht so sehr.
    Lieber Robert, hatte sie geschrieben, ihre Buchstaben waren groß und umarmten sich gegenseitig, deine indirekten Zuneigungsbezeugungen
     erfreuen und erschrecken mich. Du ziehst mich an, und zugleich läuten Warnsignale in meinem Kopf oder meinem Herz, wie immer
     man diese Instanz nennen |92| mag. Ich tauche ab in deine Augen, vergesse – gefährlich, weil ich kein Mensch bin, der in Konsequenzen denken und fühlen
     kann, sondern eine, die sich losreißt, ehe sie

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