Naechte am Rande der inneren Stadt
machten, war seltsam still. Die Straßen waren leer, obwohl die Sonne
schien.
Roberts neue Wohnung lag in einem Hinterhaus in Charlottenburg. Es war nicht so heruntergekommen wie Evas, aber auch nicht
gerade gepflegt. Nur der Hof war überraschend licht und schön; eine Firma hatte ihr Lager in der Remise, und ein Bewohner
im Erdgeschoss hatte angefangen, sich ein Gärtchen anzulegen. Roberts Wohnung war im obersten Stockwerk. Er öffnete uns die
Tür in einem Maleranzug, mit einem Brenner in der Hand. Er schüttelte mir die Hand und küsste Eva auf beide Wangen.
Ich mache den Lack von den Türen ab, erklärte er, die Reste sind ziemlich hartnäckig. Ihr könntet euch die Fensterrahmen vornehmen;
dafür ist der Brenner nichts.
Eva und ich machten uns mit Schmirgelpapier und Spachtel an den Fenstern zu schaffen. Die Vögel zwitscherten und das Radio
lief.
Hört mal eben mit dem Lärm auf, rief Robert, es gibt Nachrichten.
Die Nachrichten ließen uns erstarren. Sie erklärten die leeren Straßen. Wir sahen uns ungläubig an.
In der Sowjetunion hatte es ein Reaktorunglück gegeben. Im Block 4 des Kernkraftwerks in Tschernobyl in der Ukraine war eine
noch unbekannte Menge radioaktiver Strahlung ausgetreten und zog als brennende Wolke Richtung Westen. Die Regierung empfahl
der Bevölkerung, sich nicht im Freien aufzuhalten. Vor allem Kinder seien gefährdet, und da Sand die Strahlen unter Umständen
verstärke, sei von einem Aufenthalt auf Spielplätzen abzuraten.
|88| Wir sollten vielleicht die Fenster schließen, sagte Eva. Sie war bleich geworden.
Quatsch, sagte Robert, bis die Wolke hier ist, dauert es doch.
Es war der 26. April 1986.
Ich liebte ein Mädchen, das hieß Eva. Ein Mädchen, das Lack von den Fenstern in der Wohnung meines besten Freundes abkratzte
und kein Wort mehr sagte.
Ich starrte in das leere Zimmer, in dem zerrissenes Packpapier den Boden halb bedeckte; ich starrte in den Sonnenschein draußen,
der uns vor einer Stunde fröhlich gestimmt hatte und nun etwas Unheimliches bekam. Ich hörte Robert etwas zu Eva sagen, die
nicht antwortete. Ich sah auf meine mageren Hände und fand sie hässlich.
Unsere Leichtigkeit war dahin. Wir hörten stündlich Nachrichten; ich sah bei Opa fern; wir kauften frühmorgens die Zeitung.
Die Nachrichten waren widersprüchlich; alle waren verunsichert. Wie weit würde die Strahlung sich verbreiten? Keine Nahrungsmittel
aus dem Osten sollten gegessen werden (als ob es so viele davon gegeben hätte!); vorerst sollte keine Milch getrunken werden,
da nicht bekannt war, welchen Belastungen die Kühe ausgesetzt waren. Mindestens zehn Tage lang blieben die Spielplätze wie
leergefegt; danach sagten sich offenbar die Mütter, dass dies nun unser Leben sei, und gingen zaghaft wieder hinaus.
Es war ein sonderbarer Riss. Die Welt hatte in unserer Empfindung am Eisernen Vorhang aufgehört. Und plötzlich war dieser
Vorhang durchlässig. Für Gift. Für die größte Umweltkatastrophe, die wir uns vorstellen konnten. Deren Folgen niemand abzuschätzen
wusste. Die schlimmsten Visionen entstanden. Unsere Kinder würden an Krebs sterben; die Ungeborenen würden noch im Mutterleib
deformiert. Wir selbst würden an Leukämie zugrunde gehen. Über kaum etwas anderes wurde gesprochen.
|89| Vieles, was später in der Ukraine tatsächlich Wirklichkeit wurde, erwarteten wir für uns selbst, für ganz Europa.
Erst viel später erfuhren wir, dass man in Tschernobyl ein Experiment hatte durchführen wollen, einen Test für den Fall, dass
die Stromversorgung und damit die Kühlpumpen des Atomkraftwerks ausfallen würden. Dabei war einiges schiefgelaufen. Der Havarieschutz
hatte versagt, die Sicherheitsvorrichtungen wie die Notkühlung der Brennstäbe hatten nicht funktioniert. Doch damals hörten
wir nur Ungenaues, man wusste wenig über die Einzelheiten des Vorfalls; es wurde wild spekuliert, bis hin zur Idee eines Anschlags
durch die Amerikaner, was ich für baren Unsinn hielt.
Ich hatte mir bis dahin wenig Gedanken über Atomenergie gemacht. Genau genommen, hatte ich über die Kernkraftgegner gelächelt.
Es war doch eine vernünftige Lösung! Ja, meine Vernunft! Für was hat sie nicht alles herhalten müssen! Die Vernunft, die du
meinst, sagte Eva, schließt den Körper und die Gefühle aus, aber das geht nicht, sie muss alle Elemente des Menschen einschließen,
denn wir wissen doch gar nicht, wie sich was in uns
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