Naechte am Rande der inneren Stadt
In Berlin gab es eine Unzahl von Künstlern; wir hätten uns
mit nichts anderem beschäftigen können. An einen Bildhauer erinnere ich mich, er machte Skulpturen aus Kohle, aus der »Senatsreserve«,
also dem Kohlenvorrat, der daran erinnerte, dass wir in einer eingeschlossenen Stadt lebten. Er benutzte Porzellanscherben,
die er in Abbruchbuden aufstöberte, Rosshaar, zerfetzte Plastiktüten, Kalkstein, lauter Fundstücke, die mit Berlins Geschichte
zu tun hatten. Er mauerte sie mit Beton zusammen, zu Iglus und Pyramiden, zu dicken Männchen, die auf dem Kopf standen oder
zu tanzen schienen. Ein anderer baute Landschaften aus Pappe, die er anmalte, und bunten Plastikteilen oder anderen Zivilisationsresten,
die er vom Sperrmüll holte. Wenn ich diese Dinge sah, sprang mich manchmal eine eigenartige Kraft an.
|85| Einmal ging ich mit Eva wieder in das Atelier des Malers mit den schlechten Zähnen, Theo Hölt; ich nannte ihn innerlich immer
Hölle, beim Vornamen rief ihn keiner. Wir kamen mit einer kleinen Gruppe, vielleicht drei andere außer uns, und dieses Mal
schüttelte Hölt mir die Hand und sah mich anerkennend an. Wegen Eva, vermute ich, weil ich immer noch mit ihr kam. Er hielt
es also auch nicht für möglich.
Sein Händedruck war kräftig, der ganze Mann roch nach Farbe und Alkohol, seine Augen waren hellwach, und sein Mund hatte etwas,
als würde er jeden Moment schnalzen oder durch eine seiner Zahnlücken spucken. Eva turnte durchs Atelier und hatte bald überall
Farbflecken; sie trank ein bisschen viel und erzählte irgendeinen Unsinn, während Heumann die neuen Bilder – Arbeiten, wie er sie nannte – betrachtete. Er stand längere Zeit nachdenklich davor, die Arme verschränkt, eine Hand ausgestreckt
an der Wange.
Komm mal, sagte er zu mir. Das ist gut, du wirst sehen, das wird sein absoluter Durchbruch. Er wird eine Ausstellung in New
York damit machen; er ist im Gespräch mit einem Galeristen dort.
Ich stellte mich neben ihn und sah auf das Gewirr von Linien und Farben, aber aus den Augenwinkeln schielte ich nach Eva,
die mit Hölt schwatzte und einen großen Laib Käse für alle aufschnitt. Wenn Heumanns Prognose zutraf, würde Hölt bald nicht
mehr nebenher als Taxifahrer arbeiten müssen.
Heumann gab sich Mühe mit mir und erklärte mir anhand der Bilder Kompositionsprinzipien abstrakter Malerei und weshalb bestimmte
Flächen rosa sein mussten und keine andere Farbe haben durften. Er stellte einen Zusammenhang zur System- und Chaostheorie
her, dem ich nur schwer folgen konnte, was aber sicher nicht an ihm lag. Er hätte sich mit Leonhardt vermutlich so manches
schöne Wortgefecht geliefert, aber Leonhardt war nicht in diesem Seminar. Leonhardt interessiert sich mehr für die Theorie
als für die Praxis, sagte |86| Eva, das macht ihn ja so schön unverwundbar. Aber hier geht es doch auch um Theorie, sagte ich. Heumann und der Höllenmaler
diskutierten mit den Studenten, also mit uns, über Tachismus und informelle Malerei, die mir trotz Evas Leidenschaft ein Rätsel
blieb. Heumann machte eine rasante Überleitung und erläuterte, dass Andy Warhol in seinen Ideen auf das Konzept der
Nicht-Identifikation
setze. Dass sich aber genau damit viele identifizierten, als handelte es sich um eine besondere Lust an der Auflösung der
Subjektivität und Eigenverantwortung.
Aha, sagte ich erfreut. Das verstehe ich zur Abwechslung mal!
Mir gefiel Warhols Idee. Eine Kunst, die konzeptionell und nicht subjektiv dachte, fand ich gut. Sehr gut sogar. Subjektivität
brachte einen nur in Schwierigkeiten. Das sah ich ja an mir. Über die Sache mit der Lust an der Selbstauflösung wollte ich
nachdenken. Das war mir ein bisschen unbehaglich.
Eva lachte über mich. Du bist wirklich ein Mann des achtzehnten Jahrhunderts, sagte sie, stets der Aufklärung verpflichtet!
Was ist daran schlecht? fragte ich.
Gar nichts, sagte sie.
Manchmal wusste ich nicht, ob sie mich ernst nahm oder sich über mich lustig machte. Wahrscheinlich tat sie beides.
8
Zwei Schritte vor, einen zur Seite, zwei zurück –
Die Chronologie der Erinnerung richtet sich nach dem, was ich ertragen kann. Sie schert sich nicht um Daten oder Jahreszeiten.
|87| Mitte April hatte Robert eine Wohnung gefunden. Sie musste komplett renoviert werden, und obwohl ich wenig Zeit hatte, versprach
ich, mit Eva zu kommen und zu helfen.
Der Samstagmorgen, an dem wir uns auf den Weg zu Robert
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