Naechte am Rande der inneren Stadt
Bemerkungen zu hören, mittendrin einen
hingeworfenen Satz, der mich aufhorchen lässt. Das Aufwachen neben dir, der zärtlichste Augenblick zwischen uns, weil im Lächeln,
das gleich kommt, alles Vorherige aufgehoben ist: Nächte am Rande der inneren Stadt.
Wie werde ich jetzt immer erschrecken, morgens, wenn ich aufwache?
20:46. Ich presse die Lippen zusammen und meine Hände in mein Dreieck. Ich unterdrücke die Tränen, die in meine Augen wollen. Du
sitzt im Flugzeug. Ich bin tapfer. In den dunkler werdenden Sommerhimmel schicke ich dir meine Gedanken. Der Wind soll dich
für mich streicheln, durch den Körper des Flugzeugs hindurch.
Jackson hat angerufen.!!!!!!!
Ich habe das Bild von der Wand gerissen und mich draufgelegt und es festgehalten. Alles hat sich verschoben; er sitzt in Frankfurt
auf dem Flughafen; der Flug geht erst um Mitternacht. |136| Verena hat aus Australien angerufen, sagte er, ist wohl ganz gut, dass ich jetzt hinfahre.
Ich fing am Telefon an zu weinen und konnte nichts sagen. Er sagte auch nichts. Ich hörte die Ansagen auf dem Flughafen und
das Geld, das in den Automaten fiel.
Das Geld ist bald alle, sagte Jackson. Bitte, sag etwas.
Ich schniefte. Jackson, sagte ich.
Mädchen, sagte er.
Rufst du noch mal an? fragte ich.
Ich rufe dich an, sagte er, dann tut tut tut.
04:44. Ich wache mit dem Kater auf, den Tauben, die gurren, dem Licht, das heller wird. Der Kater hat sich unter der Decke an meiner
Seite eingerollt, dort, wo Jackson auch einmal lag, oder zweimal oder dreimal. Meistens waren wir bei ihm. Jackson mochte
Josef; er fand es witzig, wenn er beim Sex mit im Bett saß und schnurrte. Josef ist ja noch so klein.
Jackson hat unseren Kontinent verlassen. Ich habe Hunger, ich bin traurig, ich habe jetzt schon Entzugserscheinungen. Mir
ist heiß, ich habe Lust, mir ist kalt, ich hasse mein Lust-Haben. Ich weiß, dass ich so bald mit keinem anderen Körper in
Berührung kommen will und kann, damit ich deinen in mir speichern kann. Ich will mich nicht einmal selbst anfassen. Ich träumte,
mir wüchse über den ganzen Körper ein Fell, und mein Haar wurde immer länger, ich hob es immer wieder hoch und ließ es fallen
und staunte.
Ich gehe auf den Balkon und sehe hinauf. Ich kann den Horizont nicht sehen, die Häuser sind zu hoch. Die letzten Sterne blinken,
ihr Licht braucht Millionen Jahre, um zu uns zu gelangen; die Helligkeit, blauviolett, zieht langsam wie von Weitem herauf,
bald wird sie zu einem zarten Vergissmeinnicht, Hellblauweiß, ein Ton, den es nur im Sommer gibt, sehr früh am Morgen. Als
van Gogh im Irrenhaus von Saint-Rémy eingesperrt war, schrieb er an seinen Bruder, von seinem Fenster |137| aus habe er lange vor Sonnenaufgang die Landschaft betrachtet, am Himmel nur der Morgenstern, der ungemein groß schien. –
Die Venus, nach der ich meinen Arm ausstrecke.
Jacksons Stimme klang so traurig, ich habe plötzlich das sichere Gefühl, dass er mich liebt und bald zurückkommt. Mit dem
nächsten Flieger, oder dem übernächsten. Das Problem heißt nicht V., sondern einzig und allein Jackson.
Jetzt ist Verena meine Schwester. Wir sollten J. den Schwanz abschneiden. Wenn er sich nicht bald für mich entscheidet und
mir sagt, dass ich warten soll, halte ich das nicht aus. Er muss es mir sagen, sobald er dort ist.
Was für ein Unsinn. Wenn er es jetzt noch nicht gemerkt hat. Wie viele Wochen soll ich ihm denn geben?
Ich schreib ihm meinen ersten Brief, ich werd ihn sicher gar nicht abschicken müssen, aber falls er doch erst ein bisschen
bleibt und dann zurückkommt, soll er ihn lesen, wenn er in einem fremden abgedunkelten Zimmer allein auf einer Liege liegt
und der Ventilator über ihm ein gleichförmiges Geräusch macht, er soll dort an meine Lippen denken, an meine Hände, an alles.
Ich hasse dich, Jackson.
Null, null. Dies werden meine Nächte ohne Jacksons Körper sein; ich fühle ihn bei mir, ich kann ihn nur nicht anfassen. Null
werde ich dazu sagen, null,
000000000
und ein Ornament von Nullen zeichnen.
JACKSON HAT UNSEREN KONTINENT VERLASSEN.
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Ich, am ersten Tag dieser neuen Zeitrechnung. Vorgespräch für das Seminar
Bäume und der Stillstand der Zeit,
im Park; letztes Treffen vor den Ferien. Wir lagen alle mehr oder weniger im Gras und sollten Heumann beschreiben, was wir
sehen. Heumann selbst saß auf einem Stuhl wie ein Kind, für das alle Möbel zu groß
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