Naechte am Rande der inneren Stadt
völlig bescheuert.
Jetzt hat auch noch Robert angerufen, seine Stimme klang besorgt, ich wette, Konrad hat ihm was gesagt. Ich schiebe Arbeit
vor, ich will das alles nicht, ich habe ein entsetzliches Anlehnungsbedürfnis.
Juli, juli nimmt seinen lauf
geht zuende wie
–
Benno. Ich habe mich aufgerafft, bin zur Unibibliothek gefahren, um Bücher für meine Seminararbeit auszuleihen, über van Gogh.
Bei der Ausleihe steht er plötzlich hinter mir, spricht mich an.
Benno ist mittelgroß, hat helles Haar und eng zusammenstehende grüne Augen, und ein Kreuz, als würde er rudern. Er ist ehrgeizig.
Benno hat seit Anfang des Semesters ein Auge auf mich geworfen. Ich habe nur selten mit ihm gesprochen, ihm zugenickt, ich
hatte auch gar keine Zeit. Benno hat mich einmal mit Heumann in der Mensa zusammen gesehen und eine blöde Bemerkung gemacht.
Er fällt im Seminar auf, mit seinen brillanten Analysen. Ich glaube, er liebt die Kunst gar nicht. Oder man betrachtet das
Aufspießen auch als eine Form der Liebe.
Benno wittert, dass ich Trost brauche. Er sagt, traurige Frauen sind besonders erotisch. Sie ziehen einen so hinein in eine
seltsame Welt. (Ein Loch, das man stopfen will, dachte ich, meinst du das? Aber ich habe es nicht gesagt. Ich bin viel zu
sarkastisch in letzter Zeit.) Benno ist fleißig und belesen.
Ich sage, mein Freund ist in Indien. Benno ist freundlich, anders als sonst. Er schlägt vor, ins Kino zu gehen, trotz Jackson.
Wir reden über Tschernobyl und
Perestroika
.
|145| Drei Tage später. Er ruft an, wir sollen in die Nationalgalerie Ost, eine Sonderausstellung, ganz ungewöhnlich
, Wegbereiter der Moderne. Klimt, Schiele, Kokoschka
. Wir stellen die Anträge, wir fahren hinüber, wir stehen an, ich freue mich sogar ein bisschen auf die Bilder. Ich sehe Küsse,
Liebespaare, Körper. Ich sehe Linien, ineinander verschlungen. Ich renne hinaus. Die Stadt sieht mich fremd an. Ich werde
panisch, ich muss zu mir. Der Grenzer fragt: Sie können doch bis Mitternacht bleiben. Hat’s Ihnen bei uns nicht gefallen?
Ich muss mich entschuldigen.
Leonhardt hat angerufen und mich an unsere Verabredung erinnert. Wahrscheinlich stimmt es, was Benno gesagt hat, von den traurigen
Frauen. Ich traf Leonhardt, am Nollendorfplatz, wir liefen ein Stück, er fragte, was Konrad macht. Ich zuckte mit den Achseln.
Schwierig, sagte ich.
Wir saßen im »Café Einstein« am Fenster, draußen üppige Apfelbäume. Wir löffelten Eiskaffee. Wir diskutierten über eine Treue
jenseits der Askese, Leonhardts Lieblingsthema. Mir wurde übel. Irgendwann werde ich mit ihm schlafen, das will er mir doch
sagen. Ich weiß es, er weiß es, aber es hat Zeit.
Du hast einen Standpunkt, sagte er, den man früher männlich nannte.
Ich zuckte wieder die Achseln. Ich bin eine schlechte Gesellschaft zur Zeit, sagte ich.
Ich sah seinen Hals an. Er hat extrem weiße Haut. Und extrem gut durchblutete Lippen. Ich fühlte schon wieder das Pochen in
meiner Stirn. Die Schwüle lag zwischen der Realität und mir wie ein Puffer.
Aber vielleicht ist ja das Imaginäre das Reale
, Leonhardt redete unverdrossen weiter. Ich hörte nicht zu. Alles war fern und zugleich penetrant intensiv. Ich hatte ein
déjà-vu
.
Du bist einer der wenigen Menschen, sagte er, für die ich noch Aufmerksamkeit finden kann, ich möchte dich wiedersehen.
|146| Ich sah ihn traurig an. Ich hätte gern sein Gesicht mit Küssen bedeckt, einfach so, weil es da war und ich solche Sehnsucht
hatte, ein Gesicht mit Küssen zu bedecken.
Sätze schreibt man, sagte Leonhardt, um sie am nächsten Tag zu zerstören. So wird man Philosoph.
00000
Mein Bedürfnis nach Zärtlichkeit macht mich irre. Jackson ist schon drei Wochen fort und keine Zeile, kein Anruf. Er könnte
ja wenigstens ein Telegramm schicken. Ich setze ihn mir jeden Tag neu zusammen: deine rotbraune Haut, überwuchert von Haaren,
die an manchen Stellen verrückte Wirbel bilden, am Bauchnabel, an den Brustwarzen, die sich von der Wirbelsäule wegschleudern,
wilde Muster. Ich buchstabiere mir deine Blicke vor, deine Worte, als würden sie sonst weggewischt wie Voodoozeichen im Sand,
ich denke, und mein Körper denkt die ganze Zeit viel lauter als ich, mein Körper frisst alle Zeichen auf, mein Körper verachtet
alle Zeichen, mein Körper ist nass und tut weh und schreit: Ich will dich anfassen!!!
Dein Bild an der Wand sieht mich an, Jackson. Es ist trocken,
Weitere Kostenlose Bücher