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Naechte am Rande der inneren Stadt

Titel: Naechte am Rande der inneren Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Langer
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sind. Er formte seine feinen Sätze, die
     oft viel zu lang sind. Sie schwebten über uns in der trägen Luft, der Hitze. Ich sah die Halbschatten, die kleinen Holzstückchen,
     Borkenreste, Ästestückchen. Der Wind streichelte uns und trug Heumanns Worte fort. Der Kiefernwald, von dem er sprach, trat
     uns vor Augen, wenn wir sie schlossen. Moos, Boden, Trockenheit, blasshelle Strohhälmchen. Ameisen.
    Die Strohhälmchen wurden immer größer. Sie wurden vierdimensional. Ich machte schnell die Augen auf und sah das Gras, auf
     dem ich lag, es schrie grün und wurde riesig und die Schatten waren lila und kamen auf mich zugerast und alles drehte sich
     wie irre – und plötzlich war ich bewusstlos.
     

    |139| Jackson hat mir ein Riesen-Paket geschickt! Noch von seinen Eltern aus. Sein Vater wird es zur Post getragen haben. Es ist
     sehr groß. Es enthält Ölfarben, Malmittel, Ölkreiden Marke
Jaxon
, wie witzig, und drei mittelgroße Leinwände. Und einen Band Gedichte von Dylan Thomas. Ich habe es ausgepackt und geweint.
    Mit Jackson habe ich nie andere getroffen. Es hat mir nie jemand gefehlt. Es hätte ewig so weitergehen können. Es könnte ewig
     so weitergehen.
     
    Nach dem Van-Gogh-Seminar hat Leonhardt mich gefragt, ob ich etwas mit ihm trinke. Es war die letzte Sitzung vor den Ferien.
     Heute nicht, sagte ich. Nächste Woche. Ich fühlte mich anlehnungsbedürftig und musste mich zusammenreißen, keine missverständlichen
     Gesten zu machen. Ich hab ihm gesagt: Es ist wegen Jackson.
    Wer ist Jackson?, hat er gefragt.
    Ich lief durch die Gänge der Uni, ich lief zur U-Bahn , alles kam mir unwirklich und vergrößert vor; alles rückte fort und alles war aufdringlich deutlich.
    Es herrscht eine solche Hitze, trotzdem sitzen die Leute auf den Straßen draußen; drinnen hängen überall Ventilatoren; es
     gibt keine mehr zu kaufen, hörte ich im Radio. Ich trage noch immer dieselbe helle Hose und dasselbe grüne T-Shirt , das ich in unserer letzten gemeinsamen Nacht trug.
    Am Nachmittag bekam ich rasende Kopfschmerzen. Ich würde Jackson so gern irgendwo anrufen, aber wo? Ich habe angefangen zu
     weinen. Ich glaube, ich muss mich betrinken. Verena wird ihn halten, ich weiß es. Sie ist ehrgeizig, sie hat Geld, ihr Vater
     hat Beziehungen, J. wird sich bei ihr anlehnen können. Verpiss dich, Jackson. Ich will nicht mehr die Falschen wollen. Er
     hat versprochen anzurufen. Ich werde ihm schreiben. Aber wohin?
     
    |140| IN der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bis ins beginnende zwanzigste Jahrhundert hinein entdecken die Maler mehr
     und mehr die Farbe als Eigenlicht; Licht=Farbe, Farbe=Licht; sie malen die Gegenstände als Träger von Licht, sie heben die
     Dinge aus ihren Horizonten, sie ordnen sie neu an
, bis diese zu schweben anfangen
. Die Konstruktion des Bildes ist es, die den Dingen ihren Platz zuweist.
     
    Jackson hat angerufen! Ich glaub es nicht! Um fünf Uhr morgens, es wurde schon hell. Dort bei ihm ging es auf Mittag zu.
    Ich dachte schon, du wärst nicht da, sagte er. Ich war sicher, du liegst schon in einem fremden Bett und vergisst mich.
    Ich schluckte.
    Hör zu, sagte er, ich suche mir eine
poste restante
Adresse, sobald ich einen festen Standort habe. Dann kannst du mir schreiben. Die Post dauert allerdings ziemlich lange. Die
     Menschen sind alle sehr nett, es ist aber irrsinnig voll. Ich wünschte, du – Knacken und Rauschen in der Leitung. So viel
     Worte hintereinander!
    Ich wär gern bei dir, brülle ich.
    Hast du mit den Farben angefangen? fragt er.
    Ja. Ich habe angefangen. (Stimmt nicht.)
    Gut so, sagt er. Hör zu, es ist in Ordnung, wenn du dich tröstest. Wir beide sind einzig, das wird sich nicht ändern.
    Ja, sag ich.
    Aber tu’s nicht mit zu vielen gleichzeitig, Mädchen, das macht dich verrückt ——
     
    Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Ich fragte mich, ob er eine Art Freibrief von mir haben wollte.
    Niemand wird jemals so sein wie du, sagte ich.
    Dann war die Leitung unterbrochen und ich musste mich übergeben. Der Schmerz in meiner Schläfe war unerträglich. Er ist es
     noch.
     
    |141| An meinem Stundenplan in der Küche hängt ein Zettel von ihm, auf den er etwas gekritzelt hat über sich, über Distanzen, das
     Reisen. Es hat keinen Sinn, ihm in die Ferne Zeichen des Vertrauten zu schicken – bin ich ihm vertraut? – in eine andere Welt?
     Ist es nicht unbelasteter, ohne Geschichte zu sein, so zu tun, als könne man das, in einem

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