Nächte des Schreckens
erklärt ein letztes Mal: »Ich habe weder meinen Mann noch meinen Bruder umgebracht!«
Die Geschworenen brauchen nicht lange, um sich zu beraten. Ihr Schuldspruch lautet: Rolande Rouffier wird zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt. Ihr Protest gegen das Urteil wird allgemein als äußerst deplaziert angesehen. Schließlich kann sie sich glücklich schätzen, ihren Kopf gerettet zu haben!
Im Dorf Marlieu geht das Leben ohne Rolande weiter. Die Bewohner sind darüber sehr erleichtert, obwohl manche ihrer Stammgäste es bedauern, daß die lustigen Zeiten bei ihr vorbei sind.
Nachdem das Lokal ein Jahr lang zum Verkauf angeboten wurde, finden sich Anfang 1948 endlich neue Wirtsleute. Die neuen Eigentümer unterscheiden sich allerdings deutlich von Rolande. Unter der Führung von Monsieur und Madame Haumont, die beide um die Fünfzig sind, verwandelt sich die Kneipe in einen ziemlich langweiligen Ort, wo man früh öffnet und früh schließt.
9. April 1948. Als die ersten Gäste erscheinen, um ihren Morgenkaffee zu trinken, finden sie das Lokal zu ihrer Überraschung verschlossen. Die Tür ist verriegelt, und auch die Fensterläden sind noch nicht geöffnet. Verwundert rufen sie: »Monsieur Haumont! Madame Haumont!«
Keine Antwort. Gegen halb neun ist kein Zweifel mehr möglich: Es muß etwas passiert sein, und daher verständigt man die Polizei. Die Gendarmen müssen die Tür aufbrechen. Unten ist niemand zu sehen. Die Beamten gehen in den ersten Stock hinauf und betreten das Schlafzimmer. Monsieur und Madame Haumont liegen im Bett. Beide sind tot...
Unwillkürlich ruft einer der Gendarmen aus: »Genau wie der Ehemann und der Bruder von Rolande!«
Ja, genau wie bei den beiden...
Der Autopsiebefund bestätigt dies noch: Das Ehepaar Haumont ist durch eine geheimnisvolle Giftsubstanz getötet worden.
Was ist also geschehen?
Der Kommissar beginnt auf der Stelle mit seinen Ermittlungen, doch diesmal hat er eine Vermutung, die ihm damals bei Rolande nicht in den Sinn kam: Er denkt an die Möglichkeit eines Unfalls.
Die Wahrheit wird bald darauf entdeckt. Direkt neben dem Lokal befindet sich ein Kalkofen, der einen defekten Betriebsmechanismus hat und der unter bestimmten Umständen tödliche Mengen Kohlenmonoxyd ausstößt.
Dieses Gas war es, das Henri Rouffier und Gilbert Lacroix getötet hatte. Rolande war nur deshalb verschont geblieben, weil sie spät zu Bett gegangen war und um diese Zeit kein Gas mehr freigesetzt wurde.
In Marlieu war also keineswegs ein Giftmord verübt worden. Rolande mochte eine Frau von liederlichem Lebenswandel sein, aber eine Mörderin war sie nicht.
Sie wurde sofort aus dem Gefängnis entlassen. Sie wurde voll rehabilitiert, und der Staat zahlte ihr eine Wiedergutmachungssumme von viertausend Francs.
Nach Marlieu kehrte sie nicht mehr zurück. Sie verließ die Gegend gemeinsam mit ihren beiden Töchtern. Jeder im Dorf hat das verstehen können.
E INE SELTSAME K OMPLIZIN
18. März 1958. Es ist kurz vor Mitternacht. Die Gräfin Minna von Kloster, die in einer Wohnung im vornehmen dritten Wiener Bezirk lebt, ist trotz der späten Stunde noch wach. Ungeachtet ihres luxuriösen Lebensstils und ihrer Zugehörigkeit zum Adel ist sie nicht gerade das, was man sich normalerweise unter einer Gräfin vorstellt. Minna von Kloster war zur Heirat mit einem General gezwungen worden. Seit zehn Jahren ist sie nun verwitwet und versucht all das nachzuholen, was sie zuvor versäumt hatte. Sie beschäftigt sich mit den unterschiedlichsten Dingen, hat beispielsweise ihr Personal entlassen, hat gelernt, selbst zu kochen und den Haushalt zu besorgen, und all diese Tätigkeiten bereiten ihr außerordentliches Vergnügen.
Darüber hinaus macht sie Yoga, hat sich zu einem Abendkurs für Elektrotechnik angemeldet, und das alles, obwohl sie gerade siebzig Jahre alt geworden ist!
Rein äußerlich hat Minna von Kloster nichts Ungewöhnliches an sich. Sie sieht genauso aus, wie man sich eine nette Großmutter vorstellt, obwohl ihre Ehe mit dem General kinderlos geblieben ist. Die Gräfin ist von kleinem Wuchs, hat weißes Haar und schöne blaue Augen, die immer etwas erstaunt in die Welt blicken.
Im Moment ist sie damit beschäftigt, die Teile eines Radios wieder zusammenzusetzen, die ihr von ihrer Abendschule zugeschickt worden sind. Plötzlich läßt ein ungewohntes Geräusch sie aufschrecken. Es kommt vom Innenhof.
Sie geht ans Fenster und stößt einen Schrei aus: Ein Mann will über das
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