Nächte des Schreckens
Dachgesims schleichen. Ein Dieb! Das ist wirklich sehr aufregend!
Die Gräfin will sich kein Detail der Szene entgehen lassen. Bei wem wird er einbrechen? Doch nicht etwa bei den Grass’?
Doch, tatsächlich!
Minna von Kloster klatscht leise in die Hände. Er ist bei der Familie Grass eingebrochen! Nun, das geschieht ihnen recht. Das wird diesen Angebern eine Lehre sein, die so großspurig tun, nur weil er Bankier ist! Hoffentlich klaut er der Frau, dieser hochnäsigen Person, den ganzen Schmuck! Da fährt die Gräfin erneut zusammen. Im Hof ertönt gellendes Geschrei, gleich darauf eine durchdringende Trillerpfeife und aufgeregtes Stimmengewirr. Jemand hat wie sie den Dieb entdeckt und die Polizei verständigt. Wie schade! Nach und nach gehen in den umliegenden Fenstern die Lichter an. Das ganze Gebäude erwacht jetzt. In eben diesem Augenblick vernimmt die Gräfin ein polterndes Geräusch im Treppenhaus. Sie hastet zur Wohnungstür, öffnet sie und sieht, daß mehrere Polizisten die Treppe nach oben stürzen.
Sie hebt den Kopf. Ein paar Stufen weiter oben steht ein etwa dreißigjähriger Mann, der gehetzt um sich blickt. Er ist mittelgroß, dunkelhaarig und ganz in Schwarz gekleidet. Die Gräfin überlegt keine Sekunde. Sie gibt dem Dieb ein Zeichen und macht: »Psst, hierher!«
Der junge Mann scheint einen Moment zu zögern, doch da die Beamten immer näher kommen, flieht er schließlich in ihre Wohnung. Atemlos folgt er Minna von Kloster in den Salon. Als er sich etwas beruhigt hat, fragt er mit erstickter Stimme: »Warum haben Sie das getan?«
Minna von Kloster scheint keinerlei Angst zu verspüren. »Sagen Sie mal: Was haben Sie bei den Grass’ mitgehen lassen?«
Fassungsloses Staunen ist in den Zügen des Diebes zu erkennen. Dennoch erwidert er: »Gar nichts. Ich kam nicht dazu... die Polizei... Aber wollen Sie mir nicht erklären, warum...?«
»Ich mag die Leute nicht, das ist alles. Wie heißen Sie eigentlich?«
Der Mann zögert mit der Antwort, doch Minna läßt nicht locker: »Sie haben nichts zu befürchten, mein Junge. Ich habe Sie vorhin nicht deshalb gerettet, um Sie in Schwierigkeiten zu bringen. Also, wie heißen Sie? Ich möchte den Namen der Menschen kennen, mit denen ich rede.«
»Friedrich Bergen«, sagt er schließlich.
Minna geht ohne Umschweife auf ihn zu und schüttelt ihm die Hand.
»Gräfin Minna von Kloster. Ich hoffe, daß Sie für gewöhnlich mit Ihren Unternehmungen mehr Erfolg haben, oder?« Friedrich Bergen fragt sich jetzt ganz offensichtlich, mit welcher Art von Verrückten er es hier zu tun hat.
»Ja, es ist das erste Mal, daß ich in solche Schwierigkeiten geraten bin.«
Mit zierlichen Schritten beginnt die Gräfin, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie scheint gründlich nachzudenken.
»Ich glaube, ich habe eine Idee, aber sie taugt nur dann etwas, wenn Sie ein wirklicher Profi sind!«
Friedrich schweigt. Er will warten, bis die Polizei verschwunden ist, um dann so schnell wie möglich dieser anscheinend übergeschnappten Person zu entkommen.
Mit sanfter Stimme fährt Minna fort: »Was Sie da vorhin bei den Grass’ versucht haben, hat mich auf die Idee gebracht. Ich kenne eine Menge Leute wie diese in der sogenannten guten Gesellschaft, lauter Angeber, die eine Lektion verdient hätten. Warum tun wir uns nicht zusammen? Ich erkundige mich, wann die Leute nicht zu Hause sind, oder ich lade sie zu mir nach Hause ein, und in der Zeit können Sie handeln.«
»Aber ich verstehe noch immer nicht... Welches Interesse haben Sie daran?«
»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, verdienen diese Leute eine Lektion, und außerdem amüsiert es mich! Nehmen wir zum Beispiel Ruth von Petermann, die ein Stadtpalais fünf Minuten von hier entfernt bewohnt. Sie ist eine vollkommen unbedeutende Person, die sich nur für Bridge und für Kleider interessiert und die darüber hinaus nicht den geringsten Geschmack besitzt. Man fragt sich wirklich, wie jemand derart hohl sein kann. Ich werde sie also zum Tee einladen, wenn ihre Haushälterin Ausgang hat. Aber nehmen Sie nichts von den Sachen, die auf ihrem Nachttisch liegen, denn das sind alles Kopien. Der echte Schmuck befindet sich im Arbeitszimmer ihres Ehemannes...«
23. September 1958. Sechs Monate sind vergangen. In ihrem altmodischen Salon gibt sich Gräfin Minna von Kloster genüßlich dem Studium der »Wiener Gazette« hin. Der Artikel, der ihr am meisten Freude bereitet, ist den Beutezügen des »Diebes vom dritten Bezirk«
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