Nächte des Schreckens
Tankstelle auf.
Claire biegt ab, hält an und wendet sich zu dem Tankwart. Vorher hört sie Jérôme Blanchard noch zwischen den Zähnen murmeln:
»Keine Tricks! Sonst drücke ich ab!«
Alles verläuft ohne Zwischenfall. Doch als Claire dem Tankwart das Geld geben will, erklärt dieser mit einer entsprechenden Kopfbewegung: »Sie müssen drinnen bezahlen!« Claire steigt rasch aus dem Wagen. Jérôme versucht ihr zu folgen, doch er kennt sich mit diesem Autotyp nicht aus und findet den Griff nicht so schnell.
Als es ihm endlich gelingt, die Tür zu öffnen, steht Claire bereits im Büro der Tankstelle. Er sieht, wie sie dem Mann an der Kasse einen Geldschein reicht. Für Claire scheint die Zeit auf einmal stillzustehen. Sie müßte jetzt mit leiser Stimme zu dem Kassierer sagen: »In meinem Wagen sitzt ein Mann, der mich mit einer Waffe bedroht...«
Der Mann nimmt den Schein entgegen und sucht das Wechselgeld zusammen. Claire wirft einen Blick aus dem Fenster. Jérôme hat sich nicht von der Stelle gerührt. Er befindet sich nach wie vor auf dem Beifahrersitz.
Sein Verhalten ist vollkommen unverständlich! Er muß doch denken, daß sie ihn verpfiffen hat. Da er nichts mehr dagegen unternehmen kann, müßte er doch sofort den Wagen starten und losfahren!
Nein, er fährt nicht weg! Er bleibt, wo er ist. Er wartet auf sie!
»Hier, Madame: fünfundzwanzig Francs zurück...«
Claire Astier steckt das restliche Geld ein und geht ruhig zu ihrem Wagen. Sie steigt ein, schließt die Tür, startet und fährt wieder auf die Landstraße zurück.
Sie sagt nichts, und er schweigt ebenfalls. Sie hat keine Ahnung, was er denkt, aber sie ist mit ihren eigenen Gedanken schon genug beschäftigt.
Was ist nur geschehen? Hat sie den Verstand verloren oder was? Auf einmal ist sie die Komplizin eines Ganoven, der wahrscheinlich auch ein Mörder ist! Wohin fahren sie jetzt? Und was soll jetzt aus ihnen werden?
Aus >ihnen Sind sie etwa schon ein Paar geworden? Ja, genau darauf läuft es hinaus. Sie haben sich beide dafür entschieden; sie, als sie in der Tankstelle den Mund gehalten hat, er, indem er auf sie gewartet hat. Es ist absurd und im höchsten Maße verrückt, aber es ist die Wahrheit. Und seitdem sind sie beide nicht mehr vollkommen Herr der Dinge. Der weiße Ford Vedette fährt sie einem ungewissen gemeinsamen Schicksal entgegen, auf Gedeih und Verderb.
Claire fährt zügig weiter. Zum ersten Mal, nachdem sie die Tankstelle verlassen haben, ergreift Jérôme wieder das Wort.
»Wohin fahren Sie?«
»Zum Meer.«
»Haben Sie ein bestimmtes Ziel im Auge?«
»Ja. Es gibt dort ein einsames Haus in der Nähe meiner Eltern. Dort wird Sie niemand finden.«
»Glauben Sie, daß man uns gesehen hat?«
»Wer?«
»Die Polizisten, als Sie der Straßensperre ausgewichen sind.«
»Ich glaube nicht.«
Sie sprechen miteinander, als seien sie alte Kumpel. Er scheint sich nicht mehr darüber zu wundern, daß sie ein Versteck für ihn gefunden hat, und sie wundert sich ihrerseits auch nicht mehr. Claire fährt den Wagen wie in einer Art Trancezustand. »Zum Meer...«, hat sie geantwortet. Vorhin war sie noch auf dem Weg zu ihren Eltern, und jetzt ist sie auf dem Weg zum Meer. Das ist zwar dieselbe Strecke und dieselbe Gegend, aber sie kommt sich trotzdem vor, als lebe sie jetzt in einer anderen Welt.
Zuvor war alles Routine, Langeweile und grau in grau; jetzt hingegen geht es um Abenteuer, um Flucht ins Ungewisse. Ihr bisheriges Leben scheint mit einemmal wie ausgelöscht. Was mag dies nur bedeuten? Und wohin wird es führen? Sie will es nicht wissen. Im Augenblick läßt sie sich wie in einem Rausch vom Lauf der Dinge einfach forttragen. »Da! Da vorne!«
Claire war so sehr in diesen Zustand versunken, daß sie eine Sekunde zu spät reagiert hat. Vor ihr hat sich eine neue Polizeisperre aufgebaut, und diesmal kann sie nicht mehr ausweichen. Einer der Polizisten vollführt aufgeregte Gesten, während einige andere ihre Maschinengewehre in Stellung bringen. Es ist nichts mehr zu machen: Claire muß auf die Bremse treten. Einen Moment später ist der Wagen von uniformierten Beamten umringt. Man zerrt Jérôme Blanchard aus dem Wagen und legt ihm Handschellen an. Einer der Polizisten nähert sich Claire: »Es ist vorbei, Madame. Sie haben nichts mehr zu befürchten.«
Ohne zu antworten, geht sie auf Jérôme zu, der zu einem Polizeiauto geführt wird.
»Ich weiß nicht einmal Ihren Namen!« stößt er hervor. »Claire!« kann
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