Nächte des Schreckens
Menschenkenntnis hat sie noch nie im Stich gelassen. Dieser junge Mann ist weder ein Mörder noch ein gemeiner Dieb. Sein Gesichtsausdruck ist jetzt wieder ganz normal. Wenn sie ihm auf der Straße begegnet wäre, hätte sie ihn keineswegs unsympathisch gefunden. Und dennoch muß in seinem Leben etwas geschehen sein, das ihn dazu gebracht hat, sie jetzt mit einem Revolver zu bedrohen. Aber was mag das sein? Welches Drama verbirgt sich dahinter? Welches Geheimnis?
Claire hat überhaupt keine Angst mehr. Ihre alltäglichen Probleme erscheinen ihr mit einemmal sehr weit entfernt und ohne jede Bedeutung. Statt dessen wird sie von einem Gedanken ganz anderer Art beherrscht: Sie möchte erfahren, was geschehen ist...
Unvermittelt tritt sie hart auf die Bremse und biegt in eine unasphaltierte Nebenstraße ein. So schnell der unebene Boden es erlaubt, fährt sie dann weiter.
Verblüfft wendet sich der junge Mann zu seiner Fahrerin: »Sie haben die Straßensperre noch vor mir gesehen! Kompliment für Ihr Reaktionsvermögen! Ich hätte es nicht besser machen können.«
Einen Moment lang herrscht Schweigen. Claire erwidert nichts auf seine Worte. Im Grunde ist sie von ihrer Handlungsweise ebenso überrascht wie er.
»Warum haben Sie das getan?« fragt er.
Claire antwortet noch immer nicht. Sie versucht, ihre Fassung wiederzuerlangen. Warum ist sie aus eigenem Antrieb der Polizeisperre ausgewichen? Gibt es eine Erklärung dafür? Ja, es gibt sie. »Weil ich gerne herausfinden möchte...«
»Was wollen Sie herausfinden?«
»Wer Sie sind. Und was Ihnen passiert ist.«
Erneutes Schweigen. Der weiße Ford fährt nach wie vor mit hoher Geschwindigkeit den Schotterweg entlang. Es ist vollkommen dunkel.
Schließlich beginnt der Mann zu sprechen: »Also gut. Ich heiße Jérôme Blanchard und bin fünfundzwanzig Jahre alt. Wollen Sie den Rest unbedingt auch noch erfahren?«
»Ja.«
Mit harter Stimme fährt er fort: »Ich bereue nicht, was ich getan habe. Es tut mir nur leid, daß es schiefgegangen ist. Bis vor drei Monaten war ich als Automechaniker in einer Werkstatt in Boulogne beschäftigt. Dann wurde die Kasse gestohlen, und der Chef hat mich beschuldigt. Da ich mir so etwas nicht einfach gefallen lasse, hat er mich schließlich vor die Tür gesetzt. Aber ich war es nicht. Ich schwöre Ihnen, daß ich es nicht war!«
Jérôme Blanchard achtet nicht mehr auf die Fahrerin. Während er im Geiste seine Geschichte nochmals durchlebt, steigert er sich immer mehr in Wut hinein.
»Nachdem ich arbeitslos geworden war, konnte ich keine neue Anstellung finden. Überall stand ich vor verschlossener Tür. Der Chef hatte es anscheinend all seinen Kollegen erzählt. Aber diese Ungerechtigkeit konnte ich nicht ertragen. Für etwas zu bezahlen, das ich nicht getan hatte, nein, das kommt für mich nicht in Frage. Also beschloß ich, es wirklich zu tun!«
Er lacht höhnisch und erzählt weiter: »Es war ganz einfach! Ich wußte, daß der Buchhalter jeden Freitag die Kassengelder abholen kam. Mit vermummtem Gesicht lauerte ich ihm am Eingang auf und zog meinen Revolver. Leider hat sich dieser Idiot gewehrt wie verrückt. Es kam zu einem Handgemenge, und da habe ich eben geschossen. Mit dem Lieferwagen aus der Werkstatt bin ich dann abgehauen, aber das wurde auf die Dauer zu gefährlich, und als ich Sie am Straßenrand stehen sah, Sie verstehen...«
»Ist er tot, der Buchhalter?«
»Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Jedenfalls hoffe ich, daß er nicht tot ist.«
»Und wohin wollen Sie jetzt?«
Keine Antwort.
»Haben Sie denn niemanden, der Ihnen helfen könnte? Ich meine... keine Frau? Sind Sie nicht verheiratet?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Erneut erwidert Jérôme Blanchard ihre Frage nicht. Claire hat das Tempo verlangsamt, und eine Weile herrscht wieder Schweigen, bis Claire plötzlich sagt: »Wir müssen eine Tankstelle finden. Wir haben kein Benzin mehr.«
Laut fluchend beugt Jérôme sich vor und blickt ihr über die Schulter... Nein, dies ist kein Täuschungsmanöver. Die Nadel für die Benzinanzeige steht auf Null, und die Warnlampe leuchtet auf. Er drückt Claire die Waffe in die Seite und sagt mit derselben harten Stimme wie zu Anfang: »Fahren Sie wieder auf die Landstraße. Wenn Sie die geringste Dummheit machen, schieße ich Sie nieder! Ich habe nichts zu verlieren.«
Claire gehorcht. Als sie wieder auf der Landstraße sind, brauchen sie nicht lange zu suchen. Hundert Meter nach der Abzweigung taucht eine
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