Nächte des Schreckens
glauben, müssen Sie den Beweis dafür erbringen.«
Sehr ruhig erwidert der Kommissar: »Niemand beschuldigt Sie. Sie werden hier lediglich als Zeugen vernommen. Ich bin hier, um die Wahrheit herauszufinden, und ich habe noch nie jemanden verhaftet, ohne Beweise zu haben! Können Sie mir nichtsdestotrotz eine Frage beantworten, Madame? Warum haben Sie Monsieur Bosselot gesagt, er solle im Keller nachsehen, nachdem Ihr Vater verschwunden war?«
Ungerührt gibt sie zurück: »Weil Papa sich oft im Keller aufhielt. Er stellte Wein her und verkaufte ihn den Leuten im Dorf.«
Der Kommissar fährt zusammen.
»Wollen Sie damit sagen, daß Ihr Vater die Kunden auch bei sich zu Hause empfing?«
»Ja, natürlich.«
»Wissen Sie, wer das war?«
»Alle möglichen Leute... Leute aus Corvilliers und aus den Nachbardörfern. Papa hatte nämlich trotz allem noch sehr viel eigenes Geld. Wie Sie wissen werden, saß er geradezu auf seinem Geld, und wenn er irgendwo ein paar Francs dazuverdienen konnte, ließ er sich die Gelegenheit nicht entgehen.«
Blanchard überlegt... »Alle möglichen Leute«, hat Honorine gesagt. Joséph Pernel hätte seine Tür also auch jemandem geöffnet, der nur ein oder zwei Flaschen Wein bei ihm kaufen wollte. Mit einemmal hat die Tatsache, daß es keinen Kampf gegeben hat, nichts mehr zu bedeuten. Im Gegenteil, aller Wahrscheinlichkeit nach war der alte Pernel viel weniger bereit, seinen Sohn oder seine Tochter hereinzulassen, die er seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. »Ich danke Ihnen, Madame«, erklärt der Beamte abschließend. »Ihre Aussage war für mich sehr wertvoll. Ich werde Sie und Ihren Bruder wohl nicht mehr belästigen müssen...«
Nachdem sie gegangen ist, denkt Blanchard eine Weile angestrengt nach. Obwohl er den wahren Schuldigen noch nicht kennt, ist seine Schlußfolgerung eindeutig. Das Verhältnis zwischen Joséph Pernel und seinen Kindern hat mit der Sache nichts zu tun. Es handelt sich vielmehr um ein ganz gewöhnliches Verbrechen. Vermutlich wurde es von einem brutalen Trunkenbold begangen, dem der alte Pernel in seiner Geldgierigkeit etwas Wein zu verkaufen bereit gewesen war.
Blanchard gibt seinen Leuten daher Anweisung, in der weiteren Umgebung nach dem Täter zu suchen. Auf die Weise, so hofft er, werden die Dorfbewohner auch endlich begreifen, daß die Polizei ihren ursprünglichen Verdacht fallengelassen hat.
Eine Woche später kommt es zu einer Verhaftung. In einem Bistro in der Nähe von Corvilliers hat ein Tagelöhner seine Zeche mit einem Tausendfrancsschein begleichen wollen. Da der Mann nie Geld in der Tasche hatte, wurde der Wirt mißtrauisch und verständigte die Polizei.
Bei dem Verdächtigen handelt es sich um den sechsunddreißigjährigen Roland Lesueur, der für seine Gewalttätigkeit bekannt ist, besonders, wenn er getrunken hat. Er ist bereits mehrfach wegen Körperverletzung bestraft worden. Vor dem Kommissar legt er sofort ein Geständnis ab.
»Ja, ich habe die Tat begangen. Ich war zu dem alten Pernel gegangen, weil ich Wein kaufen wollte. Ich wußte genau, daß er mir aufmachen würde. Er war viel zu sehr hinter dem Geld her. Unten im Keller habe ich ihm mit dem Stück Eisen, das da rumlag, einen Schlag verpaßt. Aber ich wollte ihn nicht umbringen. Ich wollte ihn nur niederschlagen.«
»Und warum haben Sie das getan?«
»Wegen der Moneten natürlich! Jeder wußte doch, daß er genug hatte.«
»Warum haben Sie dann kein Geld mitgehen lassen?« Roland Lesueur reißt erstaunt die Augen auf.
»Was meinen Sie damit?« fragt er. »Ich habe doch die dreitausend Francs aus seinem Portemonnaie mitgenommen!« Damit ist der Fall abgeschlossen. Im Gegensatz zu dem, was alle Welt vermutet hatte, handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Raubmord. Der Täter hatte das Geld und die Goldmünzen, die sich im Büro befanden, nur deshalb nicht mitgenommen, weil er von ihrer Existenz nichts gewußt hatte. Ihm war es nur um das Portemonnaie seines Opfers gegangen.
In dem Prozeß, der im April 1950 gegen Roland Lesueur eröffnet wurde, traten Philippe Pernel und seine Schwester Honorine als Nebenkläger auf, um den symbolischen einen Franc Schadenersatz zu beanspruchen, der ihnen als Opfer einer moralischen Vorverurteilung durchaus zustand. Selbstverständlich wurde ihnen dies auch gewährt.
Als der Gerichtsvorsitzende verkündete, daß Roland Lesueur wegen vorsätzlichen Mordes zum Tode verurteilt wurde, herrschte tiefe Stille im Saal.
Jeder hat sich
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