Nächte des Schreckens
andere.
»Hören Sie, werte Dame, sie haben einen bösen Traum gehabt, das ist alles. Sie sind im Moment nur etwas durcheinander. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so bleiben Sie heute besser nicht hier. Verbringen Sie den Tag bei einer Freundin. Und wenn Sie das nächste Mal etwas hören, dann rufen Sie nicht gleich die Polizei. Warten Sie lieber, bis die Geräusche von allein aufhören.«
Als die Polizisten gegangen sind, ist Frau Lindmaier gleichzeitig verwirrt und beunruhigt. Sosehr sie sich auch bemüht, sie kann die Geräusche nicht mehr hören. Vielleicht spielen ihre Sinne oder ihr Verstand ihr allmählich solche Streiche, obwohl sie sich eigentlich noch nicht so alt gefühlt hatte. Nach gründlicher Überlegung beschließt sie, den Rat des Beamten zu befolgen. Sie hat nicht die geringste Lust, allein zu Hause zu bleiben. Lieber geht sie zu einer Freundin. Sie zieht ihren Mantel an, setzt ihren Hut auf, und bevor sie die Wohnung verläßt, löscht sie noch das Feuer.
Es ist der 24. Oktober 1976, ein Uhr mittags. Die Stadtrundfahrt ist zu Ende, und die dänische Reisegruppe kehrt ins Hotel zurück, wo sich nach wie vor keine Spur von Olaf Kirksen findet. Jetzt ist der Reiseleiter doch recht beunruhigt, zumal die Gegend um die »Chrystal-Bar«, wo Kirksen die Nacht verbracht hat, alles andere als sicher ist. Der Reiseleiter verständigt daher die Polizei.
Auch die Polizei nimmt die Angelegenheit sofort sehr ernst. In jenem Viertel ist es während der letzten Monate wiederholt zu Überfällen gekommen, denen vor allem ausländische Touristen zum Opfer fielen.
Die Beamten suchen die Bar auf, und die beiden Animiermädchen können sich bestens an Olaf erinnern, aber sie schwören, nichts weiter zu wissen. Der Däne habe das Lokal gegen zwei Uhr morgens verlassen, direkt nach dem Ende der Vorstellung. Sie bestätigen außerdem, daß er eine prall gefüllte Brieftasche bei sich hatte, die er mehrmals vor allen Leuten hervorzog.
Auch draußen auf der Wilhelmstraße suchen die Beamten vergeblich nach irgendwelchen Spuren eines Raubüberfalls. Nichts deutet auf dergleichen hin. Die kleine Straße, in der nur abends etwas los ist, wirkt jetzt wie ausgestorben. Man sieht nur baufällige Häuser mit großen Schornsteinen.
Um acht Uhr abends kehrt Frau Lindmaier nach Hause zurück. Sie fühlt sich inzwischen besser. Der Tag, den sie bei ihrer Freundin verbrachte, hat ihr den Kopf wieder zurechtgerückt und sie auch ihre gute Laune wiederfinden lassen. Sie hat am Morgen schlecht geträumt, das war alles! Mit trippelndem Schritt kommt Frau Lindmaier ihren üblichen Verrichtungen nach. Sie entzündet ihren Ofen und setzt einen Topf mit Gemüsebrühe auf. Zusammen mit den zwei Butterbroten, die sie sich zurechtgemacht hat, wird dies ihr Abendessen sein.
Doch genau in dem Moment, wo sie sich zum Essen hinsetzt, geht es wieder los. Sie vernimmt einen fast tonlosen Schrei, der nah und fern zugleich wirkt und dessen Herkunft nicht bestimmbar ist. Es ist ein Schrei des Schmerzes und der Verzweiflung, ein Schrei wie aus einer anderen Welt, der Schrei eines Verdammten! Frau Lindmaier bekreuzigt sich. Sie ist totenbleich geworden, und dies nicht nur, weil sie Angst hat, sondern auch, weil sie an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln beginnt. Dennoch ist sie fest entschlossen, die Anweisungen des Wachtmeisters zu befolgen. Das Ganze ist nichts anderes als eine Sinnestäuschung und eine Ausgeburt ihres überreizten Gehirns. Sie darf auf keinen Fall die Polizei anrufen. Und außerdem wird die schreckliche Stimme ganz von selbst wieder aufhören, schließlich war es beim ersten Mal auch so...
Doch die Stimme schweigt nicht von allein wieder, ganz im Gegenteil. Sie nimmt immer mehr an Lautstärke zu und wird immer herzzerreißender.
Frau Lindmaier hat ihr frugales Mahl beendet und geht zu Bett, aber sie kann nicht einschlafen, sosehr sie sich auch bemüht. Sie lauscht erneut, und jetzt trifft sie eine Entscheidung: Ganz gleich, was die Polizisten sagen, sie muß sie verständigen!
Mit schüchterner Stimme sagt sie in den Hörer hinein: »Hier ist Frau Lindmaier in der Wilhelmstraße. Ich weiß, Sie hatten gesagt, ich soll Sie nicht wieder anrufen, aber diese Schreie, die ich heute morgen gehört habe, die höre ich jetzt schon wieder...«
In rüdem Ton antwortet der Beamte: »Ich bin im Bilde über die Störung von heute morgen. Gehen Sie wieder schlafen, Frau Lindmaier!«
Bevor der Polizist die Zeit hat, den
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