Nächte im Zirkus
kleiner Finger, den man als Souvenir in einem Medaillon hätte tragen können.
Dann griff mich ein weiches, feuchtes, tastendes Etwas im Nacken an, und ich sprang erschrocken auf. Es war - bei Gott - das Ende eines Elefantenrüssels.
Denn, arme Dinger, dies ist nun ihr Schicksalsmoment, der Augenblick der Erfüllung, wenn wirklich alle Ketten sich lösen und sie frei sind! Doch frei wozu? Sie erreichen die ersehnte Freiheit in eben dem Moment, wo sie völlig unnütz ist.
Sie hatten sich mühelos aus den Resten ihrer Waggons herausgekämpft, und nun standen sie in einer einwandfreien geraden Reihe angetreten da, einige reichten sich Trümmerteile weiter, andere füllten die Rüssel mit geschmolzenem Schnee und spritzten ihn auf die Flammen, um sie zu löschen. All dies, als hätten sie noch nie etwas von Lungenentzündung gehört. Die Jumbos waren uns allen eine Lektion und ein Vorbild, und wenn wir die Gelegenheit gehabt hätten, uns ihrem verdienstvollen Projekt anzuschließen, hätten wir das Wrack des Zugs sicherlich im Morgengrauen tiptop aufgeräumt gehabt, doch wir mußten alles ihnen überlassen, denn während ich noch nach irgendeiner kleinen Erinnerung an den jungen Amerikaner grub, wurden wir Überlebenden aus Colonel Kearneys Zirkus entführt, alle ohne Ausnahme.
Liz erzählte, unsere Entführer seien plötzlich aus einem Birkenwäldchen aufgetaucht wie die Wächtergeister des Waldes - eine Bande rauher Burschen in Schafspelzen, bis an die Zähne bewaffnet. Offenbar hatten sie keine Pferde oder Zugtiere, denn ein oder zwei von den Männern zogen seltsame Geräte hinter sich her - lange Lärchenpfähle, kreuz und quer mit Lederriemen verbunden, die Art von Karren, die man wohl erfand, wenn einem das Rad nicht einfiel. Sie kamen, als seien sie darauf vorbereitet, die Verwundeten zu transportieren, wenn auch nur die Prinzessin eine Bahre benötigte. Sie brüllten ein paar Befehle, von denen meine Freunde kein einziges Wort verstanden (nicht sehr sprachbegabt), doch die Sprache des Gewehrs lernt sich rasch, und unsere Räuber schoben sie bald mit den Gewehrkolben zu einer Marschkolonne zusammen.
Doch ich habe an all das keine richtige Erinnerung, ich weiß nur, was Liz mir erzählt hat. Daß ich wie eine Besessene kreische und in den Trümmern kratze und wühle und sie irritiert beiseitedränge, als sie kommen und mich mit den Gewehren anstoßen. Worauf man mich einfach hochhebt und auf einen der Karren wirft, Gesicht nach unten. Lizzie glaubt sich zu erinnern, daß sie mir noch eine Decke überlegt, die sie gerettet hat, da ich nicht mehr in der Verfassung bin, daran zu denken, mich selbst zuzudecken.
So geht es davon, unter der Drohung der Gewehre, und die restlichen Überlebenden - denen ist es scheißegal! Die haben gerade den Spirituosenschrank entdeckt und drehen nicht mal den Kopf, obwohl ich, wie Liz erzählt, gewaltigen Lärm mache. Aber ich weiß davon gar nichts mehr.
Man sagt, der Engel Tubiel wacht über kleine Vögel, aber ich bin für solchen Schutz doch schon etwas zu groß. Große Vögel müssen sich um sich selbst kümmern, also sollte ich mich rasch wieder darauf besinnen, wo ich bin!
II
Walser schlief tief; er war lebendig begraben. Durch einen Schlag auf den Kopf bewußtlos geworden, als eine Schranktür in der Wand über ihm aufflog, ging er sofort in einem Erdrutsch dort verstauter Tischtücher und Servietten unter (einige sauber, einige für die Wäsche bestimmt). Die geschäftigen Elefanten türmten verschiedene andere Gegenstände aus dem zerstörten Speisewagen - Menages, Korkenzieher, Keksdosen - auf das weiche Grab, in dem seine Abenteuer geendet hätten, wenn nicht nach einer langen bewußtlosen Zeit eine Mörderin ihn ausgegraben hätte.
III
Obwohl kein Wegweiser die Richtung dorthin anzeigt, obwohl selbst der Pfad, den die mit Ketten beschwerten Füße der Bewohner jenes Ortes auf ihrer leidvollen Reise dorthin hinterlassen, rasch vom üppigen Sommerwuchs von Moos und Kraut verborgen oder von winterlichem Schneefall getilgt wird und keine Spur ihrer Ankunft zurückbleibt -: wir befinden uns nahe der Siedlung R., in deren Umgebung im Jahre 18-- die Gräfin P., nachdem sie mit Erfolg ihren Gatten über einen Zeitraum von Jahren hinweg mit einer Arsenverbindung vergiftet hatte, ohne entdeckt zu werden, und nachdem sie in ihrer Witwenschaft sich von der Vorstellung gefesselt fand, daß andere Frauen dasselbe Verbrechen begangen hatten (jedoch mit geringerem Erfolg), mit
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