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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Petersburg verließen, eher noch sauberer - wen hatte der Colonel wohl dazugekriegt, sie zu plissieren? Das Mädchen am Samowar? Den Steward? Und sie glänzte schön; so betrunken war der Colonel nie, daß er vergaß sie einzureiben, und ich dachte bei mir, daß ich auch eine Massage brauchen könnte, wenn unser Jackie sie mir geben würde.
    Da kommt er.
    Woran erinnert mich nur dieser junge Mann? Ein Musikstück, komponiert für ein bestimmtes Instrument und auf einem anderen gespielt. Eine Ölfarbenskizze für ein großes Gemälde. O ja, er ist unfertig, grade wie Lizzie sagt, aber trotz alledem - seine sonnverbrannte Haut über den Knochen! Sein sonnengebleichtes Haar! Unter seiner Schminke liegt dieses Gesicht wie ein geliebtes Gesicht, das man vor langer Zeit gekannt hat, und dann war es verschwunden, und nun ist es wieder da, obwohl ich ihn nie gekannt habe, obwohl er ein Fremder ist, trotzdem dieses Gesicht, das ich immer geliebt habe, eh ich es je gesehen habe, so daß sein Anblick voll Erinnerung ist, wenn ich auch nicht weiß, an wen ich mich erinnere, es könnte aber das vage phantasierte Gesicht des Begehrens selbst sein.
    Abwesend biß sie in ein Stück Brot, das Farbe und Textur eines Schokoladekuchens hatte. Während der Colonel Sybil auf den Schoß nahm, um gastfreundlich Platz für Walser zu machen, fühlte der junge Mann die hungrigen Augen auf sich ruhen, und es schien ihm, als schlössen sich die Zähne um sein Fleisch und er empfände auf lustvollste Weise nicht den geringsten Schmerz dabei.
    Sie hatte lediglich die notwendige Unschuld des Abenteurers genau umrissen und sich dann ihrer bedient.
    Löffel klingelten an Suppentellern, Messer knirschten an Koteletts; die fransenbehangenen rosa Lämpchen schwankten hierhin und dorthin, in den dunklen Fenstern gespiegelt, als wären es Blüten an den Zweigen der Baumreihen entlang den Gleisen, an denen sie nun vorbeifuhren; die Kellner rollten wie auf unsichtbaren Rädchen freundlich hin und her, die Teller elegant auf ihren ausgestreckten Armen aufgereiht; aus der unsichtbaren Küche drang das Klappern von Töpfen.
    Zum Dessert gab es Obstsalat.
    Dann, gerade als die Prinzessin und Mignon mit blutigen Schürzen im Speisewagen ankamen, Samson hundetreu hinterher, entstand ein donnerndes Dröhnen. Und wie auf den Befehl des lautesten Trommelwirbels in der Geschichte des Zirkus erhob sich der Speisewagen in die Luft.
    Für einen Sekundenbruchteil schwebte alles - Lampen, Tische, Tischtuch. Die Kellner schwebten hoch, und die Teller hoben sich von ihren Armen. Sybil wurde ebenso in die Höhe gehoben wie das Stück Ananas, um das sich ihre Kiefer gerade schließen wollten. Die Füße des dunklen und die Füße des hellen Mädchens unter der Tür wurden von dem sich erhebenden Boden hochgeschleudert. Dann - ehe noch Schock oder Erstaunen sich auf den Gesichtern zeigen konnten - fiel alles wieder herunter und flog mit gewaltigem, zerreißendem Krachen in eine große Zahl von Fragmenten auseinander.
    Der Zug hörte sofort auf, ein Zug zu sein, und verwandelte sich in viele einzelne Holzsplitter, verformte Metallteile, Schreie und Rufe, während der Wald zu beiden Seiten des verwüsteten Geleises in Flammen aufging, entzündet von den brennenden Scheiten, welche die Feuerung der nun zerstörten Lokomotive verstreut hatte.
    Die Riesin fand sich unter dem zusammengebrochenen Tisch eingezwängt, an dem sie blaßrote Maraschinokirschen aus ihrem Obstsalat auf den Teller des Schweins gelöffelt hatte. Ihre ersten Empfindungen waren Überraschung und Empörung. In der Nähe sprach ihre Ziehmutter im Dunkeln beredt in ihrem heimatlichen Dialekt vor sich hin, aber keiner von Lizzies Tricks konnte sie aus dieser Lage befreien. Nur die Kraft ihrer eigenen Muskeln, die Fevvers nun aufs äußerste anspannte, konnte die Wrackteile über ihnen beiseiteschieben und sie mit all ihren blauen Flecken und Quetschungen ins Freie stolpern lassen, was an sich gefährlich genug war, denn draußen war die Luft voll Flammen und umherfliegender Fetzen. Der Wind, nun zum Sturm geworden, versengte sie.
    Ich hab meinen rechten Flügel gebrochen. Indem der erste Schock abklingt, spüre ich den Schmerz. Tut ebenso weh wie ein sauberer Bruch im Unterarm. Aber auch nicht mehr. Viel Grund zur Dankbarkeit, kann meinen rechten Arm noch bewegen, wenn auch der Flügel gebrochen ist. Gott, tut das weh. Könnte schlimmer sein. Reiß dich zusammen, Mädchen, sag dir immer wieder: Es könnte viel

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