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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Tatsächlich hatte seine ständige muntere Erregung etwas Fiebriges und Verzweifeltes, denn die Affen hatten ihn im Stich gelassen, sein Meisterclown hatte sich mit einem Satz aus der Manege ins Irrenhaus begeben - der Verlust der Prinzessin war das wenigste! Und im Innersten (wenn auch sein Hirn es hitzig bestritt) wußte er, daß die Elefanten jeden Tag schwächer wurden. Es war ein ungewöhnlich schmal besetzter Zirkus, der vor dem Gottkaiser von Japan auftreten würde, es sei denn, er könnte unterwegs noch ein, zwei dressierte Bären auftreiben... Andere Rekruten bot Sibirien nicht.
    Er wußte nur zu gut, daß die, die das Große Spiel spielen, manchmal gewinnen, manchmal - verlieren (o die demütigenden Schlagzeilen in Variety !). Sein Herz übersprang einen Schlag als er Mignon singen hörte: »O Haupt voll Blut und Wunden«, und er stellte sich seinen eigenen behaarten Kopf, vom Schicksal zugerichtet, eindringlich vor.
    Vor dem Salonwagen stand der Starke Mann mit verschränkten Armen. Er war der Wachhund.
    Wenn Samsons Herz immer noch in seiner Brust schlug wie ein Vogel in einer Hutschachtel, sobald er Mignons zerbrechliche Gestalt sah, so hatte er doch gelernt, sich weit genug unter Kontrolle zu bringen, daß er nun die Botengänge für die Mädchen erledigte, bei ihnen saubermachte, ihnen mit all den Leistungen half, zu denen ihn seine Muskeln verurteilten.
    Unerwiderte Liebe setzte einen seltsamen alchemischen Prozeß in dem Starken Mann in Gang, und doch änderte auch der Gegenstand seiner Liebe sein Wesen. Die nackte Lust nach Mignon löste sich allein durch die Nähe in eine beinahe furchtsame Verehrung dieser beiden, die als ein Paar ihre Individualität hinter sich zu lassen schienen. Er wußte, daß er die eine nicht lieben konnte ohne die andere, so wie er die Sängerin nicht ohne ihren Gesang lieben konnte, und daß er beide lieben mußte, ohne die eine oder die andere anzurühren - so daß er schrittweise sich von seiner reinen Körperlichkeit entfernte. Er hatte angefangen, Kleider anzuziehen - ein sichtbares Zeichen seines gewandelten Selbstgefühls, hatte sich ein grobes russisches Hemd mit einem Gürtel gekauft und sah bereits weniger bewußtlos-brutal aus. Er nährte seine Sensibilität, dieses noch zarte Pflänzchen, indem er die beiden bewachte.
    Er ließ den Colonel mit einem knappen Nicken vorüber.
    Der Colonel konzentrierte sich über der Fischsuppe im Speisewagen auf das, was ihm noch geblieben war: Er hatte, Gottseidank! noch immer die exklusiven Rechte an der geflügelten Cockney-Venus.
    Das weiche Rosa des Schirms der Tischlampe milderte die hysterische Brillanz des Rouge, mit dem sie die Spuren ihres Tränenausbruchs beseitigt hatte. Obwohl ein Korsett heute abend wirklich zuviel war, hatte sie doch eine Geste in die Richtung großer Gala gemacht und ein Hauskleid aus crèmefarbener Spitze angelegt sowie ihr Haar hochgesteckt, damit man die dunklen Wurzeln des Scheitels nicht sah. Aber das Hauskleid, das so geschnitten war, daß seine Falten über ihren Busen fielen, stand ihr nicht: Es ließ sie ältlich und dicklich wirken, und die hochgesteckten Locken lösten sich bereits und hingen schlaff herunter. Die »Glücks«-Veilchen, die sie sich tapfer an die Schulter geheftet hatte, waren wenig überzeugende Imitationen, billig, schäbig, vielleicht das Geburtstagsgeschenk eines Kindes.
    Der Kellner sah fasziniert zu, wie der Colonel eine Serviette um Sybils Nacken band.
    »Schweine essen alles, was der Mensch ißt«, informierte er die Tafel. »Deshalb schmeckt der Mensch genau wie ein Schwein. Daher nennen die Kannibalen den gebratenen homo sapiens auch ›Langschwein‹, yessir! Allesfresser, nicht wahr, Omnivoren. Gibt uns beiden diesen interessanten Geschmack.«
    Als hätte die Erwähnung von Kannibalismus seinen Appetit angeregt, attackierte er nun mit großem Gusto ein Kalbskotelett, obwohl das Kotelett, so wie es sich anfühlte, schon vor einigen Tagen im Bahnhofsrestaurant von Irkutsk gekocht, dann in den Zug geladen und nun in einer Soße wiedererhitzt worden war, die bei weitem zu hellbraun war, um authentisch sein zu können.
    Was mich betrifft, so habe ich das widerliche Ding auf meinem eigenen Teller zu Sybil rübergeschoben, die es rasch beseitigte, genau wie der Colonel vorhergesagt hatte. Ich muß sagen, ich mochte die kluge kleine Sau sehr, und sie sah auch gut aus auf der Reise, wesentlich besser als ich. Ihre Halskrause war so blendend rein wie am Tag, als wir

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