Nächte im Zirkus
Wärterin es ihr vorhergesagt hatte. Nicht einmal die Peitsche störte den ruhigen Ablauf ihrer Tage. Morgens und abends wurden sie gefüttert: Die Mahlzeiten (Schwarzbrot, Hirsebrei, Suppe) wurden durch eine kleine Türöffnung gereicht und waren sicherlich ebenso gut wie das Essen, das Olga Alexandrowna gewohnt war, wenn nicht besser. Einen Eimer voll Wasser gab es morgens, wenn der Kübel für die Notdurft des Vortages gegen einen frischen ausgetauscht wurde. Einmal im Monat wurde das Bettzeug gewechselt. Es gab keine Post, und die isolierte Lage des Gebäudes, weit in der Taiga, hätte allein das Auftauchen von Besuchern verhindert, auch wenn Besuche nicht strengstens verboten gewesen wären.
An den Maßstäben ihrer Zeit und ihrer Gegend gemessen, leitete die Gräfin ihre Anstalt nach humanitären, wenn auch strikten Prinzipien. Ihr Privatgefängnis mit seinem unorthodox-wählerischen Aufnahmeprinzip war nicht in erster Linie als ein Ort der Strafe gedacht, sondern diente strenggenommen nur der Buße, dem Bereuen: ein Pönitenzapparat, eine Maschine, konstruiert zur Hervorbringung von Reue.
Denn die Gräfin P. hatte eine Theorie therapeutischer Meditation entwickelt. Die Frauen in den kahlen Zellen, in welchen es weder Privatheit noch Ablenkung gab, Zellen, gebaut nach dem Prinzip eines Nonnenklosters, in dem alles dem Auge Gottes sichtbar ist, die Frauen würden solange allein mit der Erinnerung an ihr Verbrechen leben, bis sie gestanden - nicht ihre Schuld, das hatten die meisten schon getan, sondern ihre Verantwortung. Und sie war sich sicher, daß mit der Verantwortung die Reue kommen würde.
Dann würde sie sie gehen lassen, denn mit ihrer Errettung (erreicht durch angestrengte Konzentration auf das von ihnen begangene Verbrechen) würden sie auch die Rettung der Gräfin vollzogen haben.
Bis jetzt hatte sich das Tor jedoch noch nie auch nur für eine einzige Rückkehr geöffnet.
Man konnte sich dieses Zuchthaus in der Form eines Rades als eine Art Gebetsmühlenrad vorstellen, welches die Gräfin (die Nabe des Rades) vor der Verdammnis retten sollte, obwohl das einzig Rotierende an der ganzen Anlage die Gräfin selbst war, auf dem sich drehenden Stuhl.
Olga Alexandrowna hatte nie viel gelesen, obwohl sie - im Gegensatz zu vielen ihrer Nachbarinnen - ihr Alphabet gut gelernt hatte, war es ihr auch hart und sinnlos genug erschienen, als ihr die Aufgabe in ihrer Kindheit auferlegt wurde. Trotzdem hätte sie gerne die Heilige Schrift bei sich gehabt, die ihr bei einigen der moralischen Auseinandersetzungen hätte helfen können, welche sie mit sich selbst führte. Aber Bücher waren verboten, weil sie die Zeit vergehen machten.
So saß sie da und dachte nach, in dieser Besserungsanstalt, die keine Andeutung der Außenwelt einließ, denn es gab keine Fenster für das Tageslicht, und die Lüftung geschah durch ein System von Leitungsröhren. Über dem Torbogen des Einganges, der nur dann einen Schimmer des Tageslichtes einließ, wenn eine neue Insassin ankam, hing eine Uhr, welche die Moskauer Zeit anzeigte, die nicht die Zeit dieser Breiten war, und diese Uhr regelte ihr Aufstehen, ihr Essen, maß jede einzelne langsame Minute ihrer Haft, und manchmal schien sich das Zifferblatt nicht von dem fahlen Gesicht der Gräfin zu unterscheiden.
Die Gräfin beabsichtigte, sie anzusehen, bis sie bereuten. Aber manchmal starben die Frauen, wie es schien grundlos, oder als wäre das Leben in diesen unnatürlichen Bienenwaben etwas so Blasses und Welkes, daß jegliche Veränderung eine Verbesserung sein mußte. Wenn man starb, dann zerrte eine Wache den Leichnam aus der Zelle und begrub ihn unter den Pflastersteinen des kreisförmigen Korridors, auf dem sie sich morgens Bewegung machten. Selbst der Tod brachte keine Flucht aus der Besserungsanstalt. Sobald eine Zelle leer war, wurde eine neue Mörderin am Tor abgeliefert, das sich mit einem endgültigen Klirren hinter ihr schloß.
So begann die Qual der Buße, eine Folter, zusammengesetzt aus verschiedenen Formen bitterster Einsamkeit, denn hier war man niemals allein, wo doch ihr Blick stets auf einem ruhte, und doch war man es immer.
Jedoch - obwohl die Gräfin in ständiger Hoffnung lebte, hatte bis jetzt noch keine von denen, die Gegenstand ihrer Blicke waren, auch nur die leiseste Regung der Reue gezeigt.
Am Ende des dritten Jahres ihrer Einkerkerung hätte Olga Alexandrowna nie gesagt, daß sie unschuldig wäre; sie hatte immer ihr Verbrechen offen bekannt.
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