Nächte im Zirkus
einem früheren Leben etwas Böses getan haben muß, um in einem solchen Chaos zu landen.
Und wenn es auch ein dummes, abergläubisches kleines Angstgefühl ist, das mich durchzittert, kindisch, launisch... trotzdem, das kleine Schwert, mit dem ich stets bewaffnet war, und die Uhr, die Zeit, die einst auf unserer Seite war - beide sind fort, sind verschwunden.
Außerdem habe ich den Verdacht, daß nicht nur mein Flügel, sondern auch mein Herz ein wenig gebrochen ist.
Es wurde uns kein Essen gebracht, da die Banditen mit ihren Klageliedern zu beschäftigt waren. Aber Lizzie, die ich aus dem Augenwinkel beobachte, erbettelt sich ein Messer von dem Feuerjungen und fängt an, die Bärenfelle zu zerschneiden, also hat sie die Absicht, uns allen gute neue Kleider zu machen, die dem Wetter draußen standhalten können, und ich muß mich doch fragen, ob sie sich in ihrem listigen alten Kopf einen eigenen Plan ausheckt. Aber fragen tu ich sie nicht, denn wir sprechen nicht mehr miteinander.
Dann klopft es an der Tür, und eine fremde, neue Stimme ruft in gebildetem Ton: »Ist jemand da?«
»Der Riegel ist draußen!« rufe ich. »Machen Sie auf und kommen Sie rein!«
So machten wir die Bekanntschaft des entsprungenen Sträflings.
VI
Früher Morgen. Der dunkelblaue Himmel färbt den Schnee dunkelblau. Der Mond erscheint und verschwindet spöttisch hinter einem Schleier blauer Gaze. Alles wirkt durchsichtig. Eine leicht-bewegliche Gestalt, das Kinn nun zart von einem silbrigen Bart umhüllt, huscht durch das Dickicht, offenbar immun gegen die Kälte, denn sie zeigt kein Unbehagen, obwohl sie seit dem Verlust ihrer Hosen, ihrer breiten Hosenträger und ihrer Perücke halb nackt ist. Im Haar stecken neben Kletten, Dornen, Zweiglein, Pilzen und Moosen Federn der Schneeule, des Goldauges, des Raben. Dieser Mann sieht aus, als sei er im und aus dem Walde geboren.
Er hält die Sterne für Vögel und zwitschert ihnen zirpend zu, als kenne er keine andere Sprache. Vielleicht hat der Engel, der seine Flügel über die kleinen Vögel breitet, ihn trotz seiner Größe adoptiert, denn außer zerkratzten Schienbeinen ist ihm kein Leid geschehen. Restchen und abgelegte Fetzchen, die in der Höhlung herumkugeln, die einst seinen Verstand beherbergt hat, treten kaleidoskopisch zum Bilde eines gefiederten, zärtlichen Dinges zusammen, das vielleicht, vor langer, langer Zeit, auf seinem Ei gebrütet haben könnte.
Obwohl sein Hahnenkamm schon längst dahin ist, ruft er immer noch: »Kikeriki!«
Als leeres Zentrum eines leeren Horizonts flattert Walser über die schneeige Wüstenei. Er ist noch immer ein mit seinen Sinnen ausgestattetes Lebewesen, doch nicht länger ein denkendes - tatsächlich ist er jetzt ganz Empfindsamkeit ohne das kleinste Körnchen Vernunft, und allein sinnliche Eindrücke haben die Kraft, ihn zu überwältigen. In seinem Zustand des Erhobenseins lauscht er dem Rhythmus einer Trommel.
Seltsames Phänomen dieser Landschaft! Als drängen die Laute aus der Erde unter dem Schnee hervor, als kämen sie aus den Himmeln darüber. Ein hohles, eindringliches Trommeln, leise erst, dann fordernd sich steigernd... tipp-tapp-tapp, rat-tat-tam, dann ein bumm-bamm-bomm. Rabbedidu-dab-di-dub und rat-ta-tam-ra-tat, Wirbel, Synkopen von einer mehr als afro-karibischen Komplexität.
Nicht, daß er das Trommeln als Trommeln erkennen könnte. Es könnte doch auch nichts als die Hervorbringung seines eigenen verwirrten Hirns sein. Er hält an und steht auf einem Bein, wie ein Storch, und riecht in die Luft, wie um zu wittern, aus welcher Richtung (wenn überhaupt) diese Anrufung dringt, doch die Kälte schnappt nach seinen Hoden, wenn er still steht, und mit einem kurzen Kreischen springt er wieder davon, bis er vor dem Geweih eines Rentierbullen stehen bleibt, das aus dem Schnee hervorragt und unabweisbar wie ein verlassener Hutständer aussieht.
Als Walser diesmal in die Luft roch, blähten sich seine Nasenflügel beim Anflug von etwas Aromatischem, etwas Wohlriechendem in der sonst blank vor Kälte daherwehenden Luft. Das Trommeln wurde lauter und lauter, die Rhythmen stets gewagter, während er dem köstlichen Duft folgte, bis er unter den Bäumen ein Kohlenbecken mit einem kleinen Feuer darin fand, aus dem wohlriechender Rauch aufstieg. Neben dem Feuer stand ein Wesen, das zusammengesetzt schien aus fransenbesetzten Lederstücken, bunten Lumpen und klirrenden metallenen Schmuckstücken. Mit dem hölzernen Stab, den er in der
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