Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
Vom Netzwerk:
einen Hand hielt, rührte er eine mit Haut bespannte Trommel von der Größe eines Mülleimerdeckels - die Art, die man in Irland »bodhran« nennt, bunt bemalt mit allen möglichen seltsamen Zeichen, auf einen Holzrahmen montiert. Diese Trommel sprach mit der Wildnis in ihrer eigenen Sprache.
    Der Schamane war durchaus nicht überrascht, Walser zu sehen, denn er hatte sich in jenen Zustand transzendenter Ekstase hineingetrommelt, den sein Beruf erforderte, und sein Geist ging nun um mit einer Reihe gehörnter Vorfahren, mit Vögeln, die Fischflossen hatten, und Fischen auf Stelzen und vielen anderen physiologisch anomalen Erscheinungen, unter denen Walser eine recht alltägliche Figur machte. Walser hockte sich an das Feuer, genoß den Rauch und machte sich ganz von neuem wieder vertraut mit dem sinnlichen Reiz der Wärme, bis die Augen des Schamanen sich hervorwölbten, Schaum vor seine Lippen trat und er umfiel, wobei er die Trommel fallen ließ, die ein kleines Stück fort durch den Schnee rollte und dann auf der Seite liegen blieb.
    Walser griff danach, mußte aber entdecken, daß er ihr nur ein wenig gedämpftes Grollen entlocken konnte. Er wußte nicht, wie man die Trommel sprechen läßt, und hätte er es durch Zufall herausgefunden, hätte er es doch nicht verstanden.
    Die Zeit verging. Der Schamane seufzte, stand auf, schüttelte den Schnee von den Röcken seines Lederkleides und sah, daß Walser immer noch da war. Der Schamane war auf alles vorbereitet, wenn er auf die Geistesreise ging, und begrüßte Walser herzlich in der Annahme, er sei eine Emanation der Wildnis, die noch eine Weile hierzubleiben beschlossen hatte, nachdem die Trommel sie gerufen hatte, und die schließlich, wenn es ihr gefiel, sachte verschwinden würde. Als Walser aber - dessen eingedenk, daß angenehme Dinge gefolgt waren, als er das schon einmal machte - seinen Bauch mit kreisförmiger Bewegung zu reiben begann, war sich der Schamane nicht mehr so sicher.
    Er redete Walser in seiner eigenen Sprache an, einem obskuren finnougrischen Dialekt, der in Kürze beginnen sollte, drei Generationen von Philologen Rätsel aufzugeben.
    »Woher kommst du? Wohin gehst du?«
    Walser kicherte, ging nirgendwo hin, fuhr fort, sich den Bauch zu reiben. Aus der Tasche, in der er seine Fetische transportierte, holte der Schamane den Becher hervor, in dem er sich zur Stärkung nach seinen Anstrengungen Tee hatte bereiten wollen - mit einem Teeziegel auf dem Kohlebecken. Er wandte sich sittsam um, hob seinen Rock und pißte in den Becher. Dann bot er mit lächelnder, formeller Höflichkeit dem unerwarteten Gast das dampfende Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
    »Kein Zucker«, beklagte sich Walser. »Keine Zitrone.«
    Doch er war durstig und trank.
    Dann begannen seine Augen wie Feuerwerksräder in ihren Höhlen zu kreisen und zu sprühen. Selbst der Schamane, der die Wirkung von Fliegenpilzgift, durch die Nieren destilliert, bestens kannte, war überrascht. Walser trat sogleich in eine lange Flucht von Halluzinationen, in denen sich Vögel, Hexen, Mütter und Elefanten mit den Bildern und Gerüchen von Fisherman’s Wharf vermengten, mit dem Alhambra in London, dem Kaiserlichen Zirkus in Petersburg und vielen anderen Orten.
    Sein ganzes verflossenes Leben lief in konkreten, aber vereinzelten Fragmenten durch sein Hirn, und er konnte sich keinerlei Reim darauf machen. Er fing an, hilflos in einer dem Schamanen unbekannten Sprache zu stammeln, was dessen Neugier noch steigerte.
    Der Schamane packte seine Sachen zusammen und schlang sich die Trommel über die Schulter. Er leerte das Feuer aus dem Becken und stampfte die Flammen aus. Er packte das Kohlenbecken ein. Er war sich mittlerweile ziemlich sicher, daß Walser - was immer er sein mochte - nicht eine seiner eigenen Halluzinationen war; vielleicht war er ein Schamanenlehrling von einem anderen Stamm (eines, wie ihm auffiel, deutlich unterschiedlichen physischen Typus), der auf einer schlecht vorbereiteten Fahrt vom Wege abgekommen war. Er zog Walser auf seinen Rücken - er war ein kleiner, aber kräftiger Mann - und brach mit ihm zu seinem eigenen Dorf auf.
    Mit dem Kopf nach unten hängend fuhr Walser fort, nachdrücklich auf den bestickten Rücken des Zeremonialkleides des Schamanen einzureden. Der halluzinogene Urin warf den trägen Motor in seinem Schädel auf Übertouren.
    »Oh!« deklamierte er in die aufziehende sibirische Morgendämmerung. »Welch ein Meisterwerk ist der

Weitere Kostenlose Bücher