Nächte im Zirkus
Mensch!«
VII
Der Flüchtling öffnete, kam herein, wärmte sich ausgiebig am Feuer und freute sich höchlichst, so eine gemischte Gesellschaft als Geiseln im Lager der Banditen zu entdecken. Er war ein wohlerzogener Mann - Junge, sollte ich eher sagen, denn er war nicht über zwanzig und sah noch jünger aus, ein frischer, klaräugiger, eifriger kleiner Putto, der hervorragendes Französisch und ausreichend Englisch sprach. Und er brachte einen frischen Luftzug in die elende Bude, kann ich euch sagen, denn er sprach nie von »gestern«. Er konnte überhaupt nur von »morgen« reden, einem strahlenden Morgen des Friedens, der Liebe und der Gerechtigkeit, in dem die menschliche Seele, die in ihrer ganzen Geschichte nach Harmonie und Vervollkommnung gestrebt hatte, dies endlich erreichen würde. Und von dem heraufziehenden Jahrhundert erwartete er sich die wesenhafte Ankunft all der guten Dinge dieses idealen »Morgen«.
Er war verbannt worden, weil er versucht hatte, sein Utopia durch die Sprengung eines Polizeipostens einen Schritt näher zu bringen, weshalb Lizzie ihn zuerst gnädig anschaute. Als er aber verlegen gestand, daß es keinen Knall und keinen Schaden gegeben hatte, weil das Dynamit feucht gewesen war, schnalzte Liz mißbilligend mit der Zunge über so viel Ungeschicklichkeit, ihre Stirn verfinsterte sich, und sie kritisierte mit aller Schärfe seine »Seele«, sein »Morgen«.
»Zunächst mal, was ist denn diese Seele, von der Sie da reden? Zeigen Sie mir ihren Ort im menschlichen Körper, und dann glaub ich’s vielleicht. Aber ich sag’s Ihnen gleich, sezieren Sie, soviel Sie wollen, sie finden Sie nicht. Und etwas, was nicht existiert, können Sie auch nicht vervollkommnen. Also nehmen Sie mal die ›Seele‹ raus aus Ihrer Theorie. Zum Zweiten, wie wir bei uns zu Hause sagen: ›Morgen kommt nie‹, und deshalb kriegt man auch immer für morgen den Pudding versprochen. Wir leben immer hier und jetzt, in der Gegenwart. Die Hoffnung auf eine Zukunft zu richten, heißt, sie einer Hypothese zu überantworten, einem Nichts. Hier und jetzt ist das, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Drittens - woran wollen Sie die Vollkommenheit erkennen, wenn Sie Ihnen begegnet? Sie können die vollendete Zukunft immer nur anhand der unvollendeten Gegenwart definieren, und die Gegenwart, in der wir unvermeidlicherweise alle leben, erscheint irgend jemand, immer unvollkommen. Diese Gegenwart kommt so jemand wie dem Großherzog ausreichend vollkommen vor, der meine Ziehtochter hier seiner Sammlung einverleiben wollte. Für die elenden Bauern, deren Abgaben seinen Luxus finanzieren, ist die Gegenwart ganz einfach die Hölle.
Wenn wir einmal die Grammatik der Zeitenfolge beiseite lassen, dann stimme ich Ihnen sicher darin zu, daß diese Gegenwart, die wir als Zeitgenossen bewohnen, jämmerlich unvollendet und unvollkommen ist. Aber dieser traurige Zustand hat nichts mit der Seele zu tun oder mit dem, was man - ohne theologischen Bezug - die Menschennatur nennen könnte. Es liegt nicht in der Natur des Großherzogs, so schwer’s einem fällt, das zu glauben, ein Schwein zu sein - noch in der Natur seiner Diener, Sklaven zu sein. Womit wir es hier zu tun haben, mein Junge, das ist der lange Schatten der Vorvergangenheit (um noch einmal auf die Grammatik zurückzugreifen), der historischen Zeit, die die Institutionen geschaffen hat, unter denen die menschliche Natur der Gegenwart erst entsteht.
Nicht die menschliche ›Seele‹ muß auf dem Amboß der Geschichte geschmiedet werden, sondern der Amboß selbst muß ausgewechselt werden, damit die Menschheit sich ändert. Dann werden wir vielleicht nicht die Vollkommenheit erleben, aber doch etwas, was ein wenig besser ist als die Gegenwart, oder - um nicht allzugroße Hoffnungen zu wecken - etwas, was ein bißchen weniger schlecht ist.«
Ich merkte daran, daß sie sich wieder etwas munterer fühlte, und der Flüchtling fing sich eine Diskussion ein, mit der er kaum gerechnet haben dürfte, als er in dem Banditenlager Zuflucht suchte, doch ehe er und Lizzie sich nun wirklich in die Haare geraten konnten über das Thema, wie man wirkungsvoll die Menschheit bessern könnte, geh ich rasch dazwischen und frage ihn, was draußen eigentlich los ist.
Es scheint, daß die Banditen derart deprimiert sind, weil ich nicht die Prinzessin von Wales bin und auch wohl nie sein werde, daß sie ihren Kummer ertränken, was sie aber auch nicht aufheitert. Je mehr sie trinken, desto
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