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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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hinter mir, wahrhaftig, Sir, an der Wand, ich hätte schwören können, daß ich da, trotz aller Spinnweben der Zeit dazwischen, das starke Schlagen von großen weißen Flügeln gehört habe. So breitete ich mich aus. Und ich schloß meine Augen und warf mich nach vorn - ich hab mich ganz der Gnade der Schwerkraft anvertraut.« Sie schwieg einen Moment und kratzte mit dem Fingernagel Linien in den schmutzigen Satin, der sich über ihren Knien spannte.
    »Und, Sir - ich fiel. Wie Luzifer bin ich gefallen. Hinab, hinab, hinab stürzte ich, krach auf den Perserteppich drunten, flach aufs Gesicht zwischen diese Blüten und Tiere, die man noch nie in einem natürlichen Wald gesehen hat, diese Kreaturen aus Traum und Abstraktion, etwa so wie ich, Mr. Walser. Und da wußte ich, daß ich noch nicht soweit war, daß ich auf meinem Rücken die große Bürde meiner Unnatürlichkeit tragen könnte.« Sie schwieg genau drei Herzschläge lang.
    »Ich fiel - und hab mir meine arme Nase vielleicht an dem messingnen Feuerbock angeschlagen -«
    »- und so hab ich sie gefunden, als ich zum Feuermachen hereingekommen bin, Hintern in die Höhe und die kleinen blonden Flügel noch am Flattern, armes Gänschen, und obwohl sie so einen Sturz hinter sich hatte und ihre Nase beinahe entzwei war - oh! wie das geblutet hat -, hat sie keinen Laut geweint, nicht einen, tapferes kleines Ding, und nicht eine Träne hat sie vergossen.«
    »Was scherte mich meine blutige Nase, Sir?« rief Fevvers leidenschaftlich. »Denn einen kurzen Moment lang - ein winziges Zögern, ein Stottern der Zeit, so kurz, daß die alte französische Uhr, wäre sie in Gang gewesen, es nie mit ihren plumpen Rädern und Federn hätte messen können, einen ganz kleinen Augenblick lang, nur das rascheste Flattern eines Schmetterlings... habe ich geschwebt.
    Ja. Geschwebt. Nur so kurz, daß ich beinahe hätte denken können, ich hätte es mir eingebildet, denn es war das Gefühl, das zuweilen auf der Schwelle des Schlafes uns überkommt... und doch, Sir, wie kurz auch immer, die Luft war unter meine jungen Flügel gestiegen und hatte mir den Zug nach unten verweigert, den die große, runde Welt auf uns ausübt, an der sich bisher alle menschlichen Wesen notwendigerweise festgeklammert hatten.«
    »Da ich die Haushälterin war«, unterbrach Lizzie, »hab ich glücklicherweise alle Schlüssel an einem Ring in meinem Gürtel gehabt, und als ich mit meinem Armvoll Sandelholz ins Zimmer geklappert kam, da hatte ich das Heilmittel für das Nasenbluten zur Hand, ich hab ihr den Haustürschlüssel zwischen die Flügel geklatscht, der war einen Fuß lang und kalt wie die Hölle. Der Schock hat das Blut gestillt. Dann hab ich sie mit meiner Schürze abgewischt und in die Küche runter genommen, in die Wärme, hab sie in eine Decke gewickelt und ihre Schürfwunden mit Jod eingerieben, hier und dort ein Pflaster hingeklebt, und als sie dann so gut wie neu war, hat sie ihrer Lizzie alles über die merkwürdigen Gefühle erzählt, als sie sich vom Kaminsims in die Luft geworfen hat.
    Und ich war voll Erstaunen, Sir.«
    »Aber obwohl ich jetzt wußte, daß ich in die Luft steigen konnte und daß sie mich tragen würde, war die Technik des Fliegens selbst mir unbekannt. Wie kleine Kinder das Gehen erst lernen müssen, mußte auch ich erst lernen, das fremde Element zu erobern, und ich mußte nicht nur die Kräfte und Grenzen meiner gefiederten Gliedmaßen kennenlernen, sondern auch das luftige Medium studieren, das fortan meine zweite Heimat sein sollte, wie der, der Matrose werden will, sich mit den mächtigen Strömungen vertraut machen muß, den Gezeiten und Strudeln, all den Launen und Stimmungen und widersprüchlichen Temperamenten der wäßrigen Zonen der Welt.
    Ich lernte zuerst, wie die Vögel auch, von den Vögeln.
    All dies geschah zu Beginn des Frühlings, gegen Ende des Monats Februar, als die Vögel gerade aus ihrer winterlichen Lethargie erwachten. Wie der Frühling die Knospen der Narzissen in unseren Blumenkästen am Fenster hervorlockte, so begannen die Tauben Londons ihr Liebeswerben, und die Tauber blähten die Brust und stolzierten komisch-pompös hinter den Weibchen her. Und es traf sich, daß die Tauben ein Nest auf dem Gesims vor unserem Dachzimmer bauten und dort ihre Eier legten. Als die kleinen Täubchen schlüpften, beobachteten Lizzie und ich sie mit größerer Sorgfalt, als Sie sich vorstellen können. Wir sahen, wie die Taubenmutter die Kleinen lehrte, an der

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