Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter

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Mauerkante entlangzustolpern, betrachteten in den winzigsten Einzelheiten, wie sie ihnen stumme Anweisungen gab, ihre Luft-Arme zu gebrauchen, ihre Gelenke: Handgelenk, Ellenbogen, dann ihre eigenen Bewegungsabläufe nachzuahmen, die - wie mir klar wurde - tatsächlich nicht sehr von denen eines menschlichen Schwimmers verschieden waren. Aber glauben Sie nur nicht, daß ich diese Studien allein betrieb - wenn sie auch das Fliegen nicht beherrschte, meine Lizzie übernahm die Rolle der Vogelmutter.
    In den ruhigen Nachmittagsstunden, wenn die Freundinnen und Schwestern, mit denen wir zusammenlebten, sich über ihre Bücher gebeugt vertieften, konstruierte Lizzie auf kariertem Papier eine Kurve, um den großen Gewichtsunterschied zwischen einem gut gebauten vierzehnjährigen Menschenmädchen und einem kleinen Täubchen darzustellen, damit wir wußten, bis zu welcher Höhe ich mich emporschwingen konnte, ohne das Los des Ikarus herauszufordern. Und die ganze Zeit, während die Monate verstrichen, wurde ich größer und stärker, stärker und größer, bis Liz sich gezwungen sah, ihre mathematischen Untersuchungen beiseite zu legen und mir eine ganze Garderobe neu zu nähen, in deren Kleidungsstücken Raum für die bemerkenswerte Entwicklung meines Oberkörpers war.«
    »Das muß ich Mutter Nelson lassen, sie hat alle Kosten ohne ein Wort beglichen, aus lauter Liebe zu unserem kleinen Kindchen, und dazu hat sie noch den Plan sich ausgedacht, daß wir überall erzählen sollen, sie sei bucklig. Jawohl.«
    »Ganz genau. Jede Nacht mimte ich die geflügelte Siegesgöttin in der Nische im Empfangszimmer und zog alle Augen auf mich, aber Nelson streute aus, daß diese strahlenden goldnen Flügel auf meinem Rücken mit einem kräftigen Klebemittel über einen Buckel geleimt waren und gar nicht mir gehörten, so daß mir die Demütigung eingehender Neugier erspart blieb. Und obwohl ich nun nach und nach viele, viele Angebote für mein Blümchen bekam, Angebote, die zum Teil vierstellig waren, Sir, hat Nelson sie alle abgelehnt, aus Furcht, dann wäre die Katze aus dem Sack.«
    »Eine wirkliche Lady«, sagte Lizzie. »War eine gute Frau, Mutter Nelson.«
    »Das war sie«, stimmte Fevvers zu. »Sie hatte eine Eigenheit, Sir - wegen Ihres Übernamens hat sie immer die volle Galauniform eines Flottenadmirals angehabt. Nicht, daß ihr irgend etwas entgangen wäre, ein messerscharfer Blick, sie hat immer gesagt: ›Bei mir an Bord herrscht Disziplin!‹ Ihr Schiff, ihr Kriegsschiff - obwohl sie manchmal lachte und sagte: Es ist ein Piratenschiff und segelt unter falscher Flagge - ihre Lustbarke, die ausgerechnet in den trägen Wassern der Themse vor Anker lag.«
    Lizzie fixierte Walser mit glitzerndem Blick und schob nun das Rad der Erzählung weiter.
    »Von der obersten Rah oder aus dem Krähennest dieses Schiffs, sozusagen, da hat mein Mädchen seinen ersten Flug gemacht. Und das kam so: -
    Stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich an einem hellen Junimorgen mit der üblichen Wachsamkeit meine Taubenfamilie beobachtete, da sah ich doch, wie eines von den kleinen Wesen am Rand des Mauersimses entlangschwankt und hin- und herzögert, also genau wie ein Schwimmer, der sich überlegt, ob denn das Wasser auch warm genug ist für ihn - da sah ich, wie die liebende Mutter hinter ihm auftaucht und den Zögerling glatt vom Sims schubst!
    Zuerst fiel er wie ein Stein, und mein Herz mit ihm, und ich schrie traurig auf, aber beinahe noch ehe der Schrei von meinen Lippen gekommen war, mußten alle seine Lektionen auf einmal seinem kleinen Kopf wieder eingefallen sein, denn plötzlich stieg er empor zur Sonne, mit einem blinkenden Schlag der ausgebreiteten weißen Flügel, und ward nicht mehr gesehen. Da sage ich zu Fevvers: ›Es nützt nichts, meine Liebe, deine Liz muß dich vom Dach schubsen.‹«
    »Mir war es so«, sagte Fevvers, »als ob Lizzie mit diesem Vorhaben, mich in die freie Umarmung der wirbelnden Luft zu stoßen, meine Vermählung mit dem Winde selbst vorbereitete.«
    Sie schwenkte sich auf ihrem Klavierstuhl herum und bot Walser ein Gesicht von so bräutlichem Strahlen, daß er mit den Augen zwinkerte.
    »Ja! Ich mußte die Braut dieses wilden, blicklosen, unfleischlichen Wanderers werden, oder ich konnte nicht fortexistieren, Sir.
    Nelsons Haus war gut fünf Stockwerke hoch, und dahinter lag ein säuberlich angelegter kleiner Garten, der sich zum Fluß hinunterzog. In der Decke unserer Dachkammer war eine Falltür zum