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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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wird. Man konnte Mutter Nelsons Haus nicht ansehen, ohne daran zu denken, daß das Zeitalter der Vernunft es errichtet hatte, und dann mußte man beinahe weinen, zu denken, daß das Zeitalter der Vernunft vorbei war, noch ehe es richtig begonnen hatte, und dieses harmonisch gebaute Überbleibsel steckte nun vergessen unter dem Lärm des Ratcliffe Highway, wie der Kern von Verstand im Kopf eines Trinkers.
    Ein paar Stufen führten zur Tür hinauf, Stufen, die Lizzie - treu wie nur irgendeine Hausfrau in London - jeden Morgen schrubbte und blankrieb. Das Haus hatte etwas Gesittetes und Properes, mit seinen hohen Fenstern, an denen immer die weißen Jalousien heruntergezogen blieben, als ob seine Augen geschlossen wären, als ob das Haus in seinen eigenen Traum versunken wäre oder als ob man - trat man zwischen den schlichten und wohlproportionierten Fenstergiebeln der Fassade durch den Eingang - einen Ort beträte, der (wie seine Herrin schon auf einem Auge) blind war für die Greuel der Außenwelt, denn innen war es ein privilegierter Aufenthalt, wo die Besucher die Grenzen ihrer Erfahrung für eine nicht unvernünftig bemessene Summe erweitern konnten. Es war ein Ort, wo verständliches Begehren auf verständige Weise befriedigt werden durfte; es war ein altmodisches Haus, so altmodisch, daß es in diesen Jahren irgendwie beinahe zu modern schien, als daß das gut gehen konnte, wie es so oft mit der Vergangenheit geht, wenn sie der Zukunft vorauseilt.
    Das Empfangszimmer, in dem ich mein ganzes Mädchenalter lang die lebende Statue spielte, lag im ersten Stock; man stieg eine gewaltige Marmortreppe empor, die sich mit einem Schwung das Treppenhaus hinaufschwenkte wie - Sie entschuldigen - der Arsch einer Nutte. Diese Treppe hatte ein wundervolles schmiedeeisernes Geländer, lauter Ranken aus Früchten, Blumen und Satyrköpfen, mit einem herrlich schlüpfrigen marmornen Handlauf, den ich in meiner unbeschwerten Kindheit gewohnt war hinunterzurutschen, daß meine Zöpfe hinter mir her segelten. Nur spielte ich immer vor der Öffnungszeit, denn nichts brachte die respektablen Kunden, wie Nelson sie so sehr bevorzugte, so aus der Fassung wie der Anblick eines Kindes im Hurenhaus.
    Das Empfangszimmer wurde von einem schönen Kamin beherrscht, den derselbe Steinmetzmeister in Marmor ausgeführt haben muß, der auch die Treppe errichtet hat. Zwei gutgebaute, lächelnde Göttinnen trugen den Kaminsims auf ihren erhobenen Handflächen, ziemlich genau so wie wir Frauen die ganze Welt im Lot halten, wenn man einmal genau hinschaut. Dieser Kamin hätte den alten Römern als Altar oder als Grab dienen können, und uns war es unser ganz eigener häuslicher Tempel der Vesta, denn jeden Nachmittag zündete Lizzie dort ein Feuer aus wohlriechenden Hölzern an, deren natürlichen Duft sie ihrer Gewohnheit entsprechend mit Parfums der besten Qualität vermengte.«
    »Was mich angeht«, warf Lizzie ein, »ich war als Hure nie besonders groß rausgekommen wegen dieser unbequemen Angewohnheit, die ich hatte mit dem Beten ; das hab ich von meiner Familie, und das bin ich nie losgeworden.«
    Dies schien schlechthin unglaublich, und Walser blieb ungläubig, wenn auch Lizzies funkelnde schwarze Augen dem Zweifel drohten.
    »Nachdem ich ein, zwei Dutzend der regelmäßigen Kundschaft zur römisch-katholischen Kirche bekehrt hatte, da hat mich Mutter Nelson eines Nachmittags in ihr Büro geholt und gesagt: ›Liebe Liz, so kann’s nicht weitergehen! Du machst die armen Mädels arbeitslos, wenn du so fortmachst!‹ Sie hat mich vom regulären Stundenplan befreit und ließ mich als Haushälterin arbeiten, was mir gerade recht war, weil die Mädchen haben sich darum gekümmert, daß ich meinen Anteil bekommen habe. Und jeden Abend, wenn es dunkel wurde, hab ich das Feuer angezündet und versorgt, bis dann um acht oder neun das Empfangszimmer so behaglich war, wie’s zwischen zwei warmen Beinen ist -«
    »- und süßriechend wie der Scheiterhaufen des Phönix, süß und leicht lila vor Rauch wie eine einzige Halluzination, Sir.
    Nun, Mr. Walser, am ersten Tag, wo ich mich ausgebreitet habe, da war ich, wie man sich vorstellen kann, doch sehr perplex, was meine eigene Natur anging. Mutter Nelson hat mich in den Kaschmirschal gewickelt, den sie selbst gerade umgelegt hatte, da ich mein Hemd zerrissen hatte, und Lizzie mußte die Nadel führen, damit mein Kleid meinem neuen Zustand entsprechend geändert werden konnte. Wie ich auf dem Bett in der

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